Eigentlich war der Rücktritt von Sergio Cofferati, Generalsekretär des größten italienischen Gewerkschaftsbunds CGIL, für den 8. Juli geplant. Trotz der Anfeindungen von Seiten der Regierung wird er nun noch bis zum 20. September auf seinem Posten ausharren. Dann übernimmt Guglielmo Epifani den Chefsessel des unter scharfem Beschuss stehenden Gewerkschaftsbundes. Die gewerkschaftliche Einheitsfront mit den beiden Schwesterorganisationen CISL (katholisch) und UIL (ex-sozialistisch) ist zerbrochen: im Streit um die Frage des Artikels 18. Die CGIL hat zwar mit beachtlichem Erfolg zu Streiks in mehreren Regionen aufgerufen, die Aktionen werden aber von der reaktionären Regierung des Silvio Berlusconi in die Nähe subversiver, ja terroristischer Tätig
tigkeit gerückt. Ähnlich wie vor einigen Monaten, als am 19. März der Berater des Arbeitsministers, Marco Biagi, erschossen worden ist. Die Gewerkschaft, insbesondere die CGIL mit ihrem Chef Cofferati, wurde schon damals der moralischen Mitschuld verdächtigt. Eine Konstruktion, die nun neue Nahrung erhalten hat. In der vergangenen Woche tauchten fünf Briefe auf, die Marco Biagi im Sommer vergangenen Jahres an verschiedene Repräsentanten von Institutionen - Präsident der Abgeordnetenkammer, Arbeitsminister, Staatssekretär im Arbeitsministerium, Präfekt von Bologna und Direktor des Unternehmerverbands Confindustria - gerichtet hat und in denen er seinen Befürchtungen Ausdruck gibt, wegen seiner Beratertätigkeit für das Arbeitsministerium potenzielles Opfer terroristischer Anschläge zu sein. Biagi beklagte zudem, dass ihm die Eskorten entzogen worden seien und bat um bessere Bewachung. Bis heute ist nicht geklärt, warum in allen vier Städten, in denen Biagi tätig war oder wohnte - Rom, Mailand, Modena und Bologna - nach und nach jeder Personenschutz aufgegeben worden war, obwohl der Arbeitsrechtler inständig um seinen Schutz ersucht hatte. Die zuständigen Stellen bei der Polizei und im Innenministerium, allen voran Minister Claudio Scajola selbst, haben jede Verantwortung von sich gewiesen. Diese Schuldfrage scheint nun in einem geschickt konstruierten Anklagegebäude, das Sergio Cofferati im Mittelpunkt sieht, unterzugehen. In zwei der Briefe, die von La Repubblica veröffentlicht wurden, verweist Marco Biagi direkt auf Cofferati und schreibt, dass dieser ihn "kriminalisiere" (Schreiben an Kammerpräsident Pier Ferdinando Casini), ja sogar "bedrohe" (Schreiben an den Direktor der Confindustria Stefano Parisi). Schwere Vorwürfe, die durch nichts belegt sind, aber genau das Theorem stützen, wonach der von den Gewerkschaften angeheizte Konflikt zum Terrorismus führe oder sogar sie selbst zu Terroristen mache. Der Regierung, die in den kommenden Tagen ein Separatabkommen über den Artikel 18 mit CISL und UIL abschließen will, kommt dies zupass, um die CGIL, die weiter streikt, zu diskreditieren und zu kriminalisieren. Regierungsvertreter riefen denn auch die Gewerkschaftsvertreter dazu auf, ihre Töne zu mäßigen. Cofferati, geboren am 30. Januar 1948 im kleinen norditalienischen Örtchen Sesto e Uniti (Cremona), zieht sich nun mit diesen ungeklärten, perfiden Vorwürfen im Rücken aus der aktiven Gewerkschaftsarbeit zurück und geht dorthin, wo er 1969 begann, zu Pirelli. Seine Wahl zum Betriebsratsvertreter 1974 begründete seine Gewerkschaftskarriere in der CGIL, die er 1994 mit der Übernahme des Chefsessels des Generalsekretärs krönt. Cofferatis Aufstieg und Erfolg in der CGIL hängt kurioserweise fatal mit dem Aufstieg des Medienmultimillionärs Silvio Berlusconi in der Politik zusammen. Das Jahr, in dem er CGIL-Generalsekretär wird, ist zugleich der Beginn der politischen Karriere des vermeintlichen Selfmademan Berlusconi, der mit seiner neoliberalen Politik schnell die Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften provoziert. Damals ging es um eine Rentenreform, die von allen drei Großgewerkschaften, also CGIL, CISL und UIL, gemeinsam bekämpft wurde. Eine Massendemonstration noch im selben Jahr war einer der Gründe dafür, dass diese erste Berlusconi-Regierung zusammenbrach. Es wurde ruhig um die Gewerkschaften, auch um die kämpferische CGIL Cofferatis, die sich 1996 mit der Machtübernahme der Mitte-Links-Koalition "Ulivo" (Olivenbaum) unter Führung von Romano Prodi einem Schmusekurs mit der politisch wohlgesonnenen Regierung hingab. Der unterdrückte soziale Konflikt machte aus der Prodi-Regierung ein blutleeres politisches Projekt, das den EU-Beitritt mit Beachtung der Maastricht-Parameter als einziges Ziel kannte, die sozial benachteiligten Schichten jedoch vor den Kopf stieß und nicht einzubinden verstand. Den von den Gewerkschaften eingehaltenen Burgfrieden nutzte die Partei "Rifondazione comunista" (PRC), um sich an die Spitze der Arbeiterbewegung und all derer zu setzen, die mit dem Sparkurs Prodis zu Lasten der sozial Schwachen nicht einverstanden waren. Machtproben sind die Folge, die CGIL hält dabei aber weiterhin still. Cofferati will es sich nicht mit den regierenden Linksdemokraten (DS) verderben, die seine politische Heimat sind. In dieser Zeit erfolgt der programmatische Bruch zwischen Sergio Cofferati und PRC-Sekretär Fausto Bertinotti, der ersterem vorwirft, die Herausforderungen der Globalisierung mit ihren negativen Folgen für die sozial Schwachen und die Arbeiter insgesamt nur verträglicher gestalten zu wollen. Bertinotti mahnt die radikale Kritik des Regierungskurses an. Aber CGIL, CISL und UIL machen sich das Konzept der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts selbst zu eigen. Sie legen den sozialen Konflikt für die Zeit der Mitte-Links-Regierungen fast vollständig zu den Akten. Diese Passivität bekommt Cofferati zu spüren, Kritik von links wird in diesen Jahren immer deutlicher. Cofferatis Stunde hat geschlagen, als im letzten Jahr Silvio Berlusconi und seine reaktionäre Regierungskoalition erneut die Macht übernehmen und sich anschicken, den Arbeitsmarkt zu revolutionieren und die Gewerkschaftseinheit zu sprengen. Angriffspunkt ist das so genannte Arbeiterstatut, das Arbeitern in Unternehmen mit mehr als 15 Beschäftigten vor willkürlichen Kündigungen schützt. Diesen Artikel will Arbeitsminister Maroni, mit Rat und Tat vom ermordeten Arbeitsrechtler Marco Biagi unterstützt, ändern und in bestimmten Fällen aufheben, um Arbeitsplätze für die Jugend freizumachen, heißt es offiziell. Ein hart von den Gewerkschaften erkämpftes Recht soll ausgehöhlt werden. Tabubrecher ist erneut Silvio Berlusconi. Aber die Einheitsfront gegen diesen politischen Gegner lässt sich keineswegs einfach herstellen. CISL und UIL erklären sich zu gewissen Modifikationen des Artikels 18 bereit, wenn dafür an anderer Stelle mehr Geld auf den Tisch kommt. Beispielsweise für die Arbeitslosenunterstützung. Die Regierung lockt CISL und UIL mit einem Separatabkommen. Am 23. März diesen Jahres ruft die CGIL allein zu einer Massendemonstration in Rom auf, um gegen die Änderung von Artikel 18 zu protestieren und sich gegen den Terrorismus zu wenden - am 19. März war Marco Biagi vor seiner Haustür in Bologna erschossen worden. Mehr als zwei Millionen Menschen strömen in die italienische Hauptstadt Rom: ein voller Erfolg für die CGIL und die gesamte Gewerkschaftsbewegung und vor allem ein persönlicher Sieg Sergio Cofferatis, der es verstanden hat, Arbeiterbewegung, Globalisierungsgegner und wütende "Normalbürger" um ein Thema herum zu vereinen. Der Erfolg des Streiks ist offensichtlich, in Italien stehen alle Räder still. Die großen Gewerkschaften sind so stark wie nie zuvor. Sergio Cofferati wird fast schon als Held gefeiert, der die eingeschlafenen Lohnabhängigen motivierte, die eigenen Rechte mit Arbeitskampfmaßnahmen gegen alle Versuche einer verordneten Zwangsflexibilisierung durchzusetzen. Wenige Monate später ist die Einheitsfront auseinandergebrochen. Und Sergio Cofferati geht in den gewerkschaftlichen Ruhestand.
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