Geborgter Lifestyle

Europa wird geprobt Beobachtungen aus Bulgarien, das sich auf die Integration in den Westen vorbereitet

In Bulgarien heißen Kneipen nicht einfach Chez Heinz, Magnet oder Bei Doris, ihre Namen wollen ein Mehr vermitteln, das als Mangel im lokalen Kontext erfahrbar ist. Sie heißen Lifestyle, Dallas, Elite oder Arrogance, und in diesen Benennungen liegt eine Sehnsucht nach Distinktion und Einzigartigkeit verborgen. Ihre Namen behaupten die Überschreitung des Nationalen. Sie vollziehen den ästhetischen Anschluss an Konsumgewohnheiten, die von den Abziehbildern amerikanischer Fernsehrealität kopiert wurden. Als Kopie einer Kopie verstören sie den Besucher aus dem Westen zwangsläufig.

Mit ihren Spiegelorgien, den Kachelböden aus dem Heimwerkerbedarf und dem hemmungslosen Gebrauch von Pastellfarben erinnern jene Soziotope stark an Münchner Großraumdiskos aus den achtziger Jahren. Die Gesichter ihrer Besucher zeichnet ein ähnlicher Ennui. Genauso erinnern diese Orte aber auch an kleinbürgerliche Restaurants aus mittleren deutschen Kleinstädten, also an all das, was der Provinzflüchtling hinter sich zu lassen glaubt, wenn er das Ortsausfahrtschild passiert.

Varna am Schwarzen Meer, die Tourismushochburg und zugleich reichste Stadt Bulgariens, ist hauptsächlich bei ostdeutschen, aber zunehmend auch bei westdeutschen Bürgern so beliebt, weil sie eine brisante Mischung bietet aus urbanen Verheißungen - der kommunistischen Bauplanung, deren utopischer Charakter trotz Verwahrlosung erkennbar bleibt - und den gemütlichen Resten einer Bäderarchitektur aus dem 19. Jahrhundert, beides in unmittelbarer Nähe zu Großraumdiskos mit demokratischer Einlasspolitik. Und all dies zum kleinen Preis!

Die sozialen und kommerziellen Sphären, die den fortgeschrittensten Einbruch kapitalistischer Strukturen aufweisen, sind naturgemäß die Bereiche, die mit dem geringsten Widerstand betreten und verlassen werden können und in denen »instant gratification« garantiert ist. Ihre Codes sind internationalisiert und fordern keine Auseinandersetzung mit dem Kontext. Sie sind sichtbare Resultate der Kommerzialisierung: Handyshops, Casinos, Banken, Cafés, Lifestyle-Magazine, die bezeichnenderweise Egoiste heißen, große Supermärkte, Fernsehsender. Um so stärker fallen die Bereiche dagegen ab, die weniger erfolgreich nach dem Gewinnprinzip operieren, wie zum Beispiel Behörden, öffentliche Einrichtungen, Theater und Schulen. Schaut man genauer hin, bemerkt man, dass die interne operative Logik der erfolgreichen Konzerne noch Spuren jenes lokalen Kontextes aufweist, den sie nur allzu bereit sind zu verlassen und in dessen Folge ein Mehraufwand an ästhetischer Kompensation betrieben wird: Die Größe ihrer Labels, der Aufwand an Werbung, die peinliche Sauberkeit und Sterilität ihrer Milieus verraten sie.

Als missverstandene Gleichheit darf - hier zeigt die nachgeholte Postmoderne ihr offensichtliches Potenzial - alles nebeneinander existieren. Diese Heterogenität fasziniert; in ihr kommt in letzter Konsequenz eine brutale Wahrheit zum Ausdruck. Wenn in Berlin Schlösser wieder aufgerichtet werden, um die Fassade eines toten 19. Jahrhunderts zu reanimieren, beachtet man penibel die architektonischen Vorgaben der Nachbarschaft. Hier gilt das absolute Gegenteil: eine Willkür der Ästhetik, die nicht auf Homogenität und Korrespondenz bedacht ist, zeigt unverschleiert das Nebeneinander von Repräsentanz und Bedeutungslosigkeit. So werden die Diskontinuitäten einer Gesellschaft erfahrbar, die sich aufteilt in diejenigen, die im Zuge der Kapitalakkumulation sich selbst und ihre Besitztümer ausgestalten, und die, die im Nachbarhaus mit dem Durchschnittslohn von 120 Leva leben.

Der geborgte Lifestyle setzt eine Hybrid-Architektur in die Welt, die nicht ironisch verschiedene Zitate zusammenfügt, sondern es ernst meint. Sie folgt einzig dem persönlichen Geschmack und dem Verlangen nach Repräsentation. So promeniert der Spaziergänger in Varna vorbei an Villen aus den dreißiger Jahren, um im nächsten Moment vor einer veritablen Ranch zu stehen, aus der jeden Augenblick Sue Ellen, JR und Miss Elly treten könnten. Wieder andere Gebäude sind von Sicherheitsmaßnahmen baulich so umschlossen, dass sie an Resozialisierungseinrichtungen mit eingeschränktem Freigang erinnern; sie sind eine Art Luxusknast.

Auch außerhalb der Städte trifft man auf diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Wer von Varna nach Sofia reist, kommt an unzähligen Tankstellen vorbei, die scheinbar verlassen an den Autobahnen stehen. Von riesigen Ausmaßen nehmen sie einen Platz ein, der in keiner Relation zum eigentlichen Bedarf steht. Ihre hinter Glas minutiös ausgeleuchtete Leere erhellt die sie umgebende Dunkelheit künstlich und leiht ihnen die Qualität einer »profanen Epiphanie«, einer »göttlichen Erscheinung im Alltag«, wie man sie im Passagenwerk von Walter Benjamin beschrieben findet.

Im Überfluss an Tankstellen und Cafés finden sich die Zusammenhänge zwischen Schattenwirtschaft und den erfolgten Privatisierungen am Ende der kommunistischen Herrschaft versinnbildlicht. Zunächst nämlich wurden die Energiemonopole aufgeteilt, da sie den größten Gewinn versprachen. Am einfachsten ist es, Geld »anzulegen«, wenn es eine nach außen hin legale Fassade besitzt. Bulgariens größtes Problem, die Schattenwirtschaft, ist ein öffentliches Phänomen. Keinesfalls operiert sie im Dunkeln - der aufmerksame Spaziergänger kann ihre hellerleuchteten Hinweis- und Reklameschilder überall sehen.

»Kasinokapitalismus« hat Ivan Stanev, ein bulgarischer Theaterregisseur, das mit Bezug auf Las Vegas genannt, und umschreibt damit die Zustände des Landes, das er bereits vor vielen Jahren verlassen hat. Als Sommerfrischler kehrt er jährlich heim nach Varna und genießt den Blick von außen. Wenn er möchte, könnte er sich eine Luxuslimousine kommen lassen (umsonst!), die ihn direkt ins nächste Casino fährt. Dort wird das Geld verspielt, das in keiner Bilanz auftaucht. Eine Freiheit, die den Reiz des Spiels zu schmälern droht, da die Angst des Verlustes nicht existiert.

Der derzeitige Kulturminister ist ein Freund des regierenden Königs Simeon. Durch demokratische Wahlen an die Macht gekommen hat die dubiose Regentschaft dieses präsidialen Monarchen in der übrigen Welt ein Bild von Bulgarien entstehen lassen, das einer Art korruptem, brutalisiertem Disneyland entspricht. Abrachsev, der Kulturminister, machte sich »am Hof« zunächst mit einem Oratorium auf den König gefällig. Er ist ein bloßer Verwalter der Kultur, der ohne eigene Ideen oder Richtlinienkompetenz agiert. In der Außenwirkung scheinbar harmlos ist es genau diese Naivität, die in Kombination mit den restriktiven Vorgaben des IWF zu einer Gefälligkeitspolitik führt, die die gesamtgesellschaftliche Resignation auch in der Sphäre der Kultur fortschreibt.

Der Widerspruch von Ambition und Zerfall, der schon in einem neuen Gebäude erkennbar ist, kann als Bild für das gesamte Land verstanden werden. Sobald Geld vorhanden ist, scheint alles machbar; ohne Mittel jedoch verfällt selbst das, woran allen gelegen wäre. Dieser Egoismus ist eine Spätfolge des politischen Systems der postulierten Solidarität, das, in einer neuen wirtschaftlichen Realität in sein Gegenteil verkehrt, zu einer brisanten Mischung gelangt. Die Einführung der Marktwirtschaft wurde durchgesetzt, indem mit ihren produktiven Kräften geworben wurde. Welche zerstörerische Kraft sie auch entfalten kann, davon will nun niemand etwas gewusst haben.

Ein ästhetisches Projekt, das mit äußerster Akribie für das Detail und maximaler Rücksichtslosigkeit gegen den eigenen Körper betrieben wird, ist das Selbst-Design. Selbstverwirklichung erfolgt nach außen hin. Viele Bulgaren geben zunächst ihr Geld für sichtbaren Luxus aus, Mobiltelefone, Autos und westliche Mode - Essen, Wohnung oder Kultur sind weniger wichtig. Das erhöht den Kontrast zu der sie umgebenden Realität. Erst an Orten wie Arrogance oder Elite stimmen Kulisse und Kostüm überein.

»Unser Bulgarien soll schöner werden«, eine Parole, die bereits in Westeuropa erfolgreich ihr ästhetisches Unwesen betrieben hat, hat Bulgarien erreicht. Was sie bedeutet, wird ersichtlich, wenn man durch das nächtliche Varna schlendert: Die wichtigsten Gebäude sind bunt erleuchtet; ein Light-Desginer war so freundlich; wer die Stromrechnung bezahlt, scheint gleichgültig. Licht ist ein treuer Komplize in der Ausleuchtung der Misere. Die orthodoxe Kirche glänzt golden, das Theater von Varna ist frisch gestrichen, die Fassade sonnt sich im nächtlichen Schein. Durchbricht man jedoch das Außen und öffnet eine Tür, besucht etwa eine Aufführung, wird die Kehrseite der Medaille erfahrbar. Im örtlichen Theater funktioniert die Heizung nur manchmal, aber das ist nicht mal das gravierendste Problem, vor dem Regisseure stehen. Es ist kein Geld da für Theaterarbeit, für jedes einzelne Requisit muss eine Telefonkette mit Gefälligkeitsbitten initiiert werden. Schnell gewöhnt man sich daran, die Zeichen zu lesen und kehrt die kosmetische Verblendung stets in ihr Gegenteil. Anstatt diesen Kontrast zum Thema zu machen, bemühen sich die Theater allerdings darum, ihn zu kaschieren. Eine Kompensation, die für die Einheimischen funktioniert, dem westeuropäischen Theaterbesucher jedoch merkwürdig vorkommt.

Die größten privaten Firmen Bulgariens sind aus dem altem Parteikapital der KP hervorgegangen. Die Legende, die hier überall erzählt wird, klingt zunächst unglaublich, aber nach einigen Wochen in Bulgarien kolportiert man sie selbst: Die alten Kader erhielten einen dicken Koffer voller Geld und den Auftrag, damit eine Firma zu gründen. In der Anarchie der Wendezeit entstanden so aus alten kommunistischen Netzwerken neue, auf Profit orientierte Glaubensgemeinschaften. Die Ideale von einst waren schnell durch kapitalistischen Pragmatismus und Zweckorientiertheit ersetzt. Den Erfolg trübt nur der fade Beigeschmack der Illegalität. Luxus in Bulgarien ist eine heikle Angelegenheit - stets muss man Angst haben, den Neidern und Mitkonkurrenten zum Opfer zu fallen. Die Fallhöhe in der bulgarischen Gesellschaft ist groß, ein Absturz kann leicht das Leben kosten. Attentate sind an der Tagesordnung.

Das europäische Bewusstsein, von dem die EU-Politiker so vollmundig reden, trifft in Bulgarien auf eine harte Realität. Wirtschaftlich sind die Beziehungen zur EU schon jetzt überlebenswichtig. Vielleicht war dieses europäische Bewusstsein ja schon immer nichts anderes als ein Label, das es ermöglicht, mit anderen Ländern in nachbarschaftlicher Gemeinschaft einen wirtschaftlich-strategischen Vorteil zu erzielen. Erhofft man sich nicht mehr, findet man auch in Bulgarien Übereinstimmung. Der eilfertige Beitrittswille der Regierungen erinnert dabei manchmal an das Verhalten pubertierender Schüler: Man will in der populären Clique dabei sein. Die Stärke des Außenstehenden wird zu Gunsten eines ängstlichen Mitmachens verspielt.

Innerhalb des kleinen inzestuösen Zirkels sogenannter Kulturschaffender reagiert man auf die Bemühungen Bulgariens um europäische Integration mit Ermüdung. Die exzentrische Position - immer dort zu sein, wo etwas anderes nicht ist, wo relevante Dinge scheinbar nicht existieren - wird meist entweder durch eine unkritische Kopie des Vermissten kompensiert, siehe Arrogance, oder führt zu Resignation, im besten Fall zu Desinteresse. Nicht wahrgenommen zu werden jenseits der Grenzen des Landes schmerzt und frustriert die bulgarischen Künstler. Nur im Ausnahmefall treibt diese Situation die eigene Produktion an. Sobald ein bulgarischer Künstler auf dem internationalen Markt agiert, wird seine heimatliche Position um so schizophrener. Er betritt eine Art Raumschiff, das von wenigen Eingeweihten gesteuert wird.

Der »Westen« kann sich größtenteils nur auf das einlassen, was ihm entspricht, was letztlich seine eigenen Codes und Zeichen benutzt. Abweichung fällt durch das Wahrnehmungsraster, das ohne tiefere Kenntnisse des jeweiligen lokalen Kontexts auskommen muss. Oder aber die Abweichung, das Authentische, das Andere wird verherrlicht und die traditionellen, spirituellen und exotischen Kulturgüter dem sinnsuchenden, ethnophil Interessierten im Westen als Objekte einer politisch korrekten Überidentifikation angeboten.

So muten die Versuche, ein Anti-Establishment zu bilden - wie das unter anderem Javor Gardev, einer der kompromisslosesten und gegen die Praxis der ästhetischen Heterogenisierung und Indifferenz anarbeitenden Theaterregisseure, unternimmt - oft richtig und kontraproduktiv zugleich an. Die Realität auf der Bühne sehen, daran ist das bulgarische Publikum nicht interessiert. Von der habe man schließlich genug, sobald man den Zuschauerraum verlasse. Unterhaltung und Repräsentation sind gefragt.

Natürlich ist es problematisch, die Antwort auf die eigenen kreativen Konflikte immer in Europa zu suchen. Die Konstruiertheit und fast virtuelle Unwirklichkeit der Idee »Europa« zu hinterfragen, das übersteigt die Sehnsucht der meisten nach Eindeutigkeit und Immanenz. Letztlich ist die EU ein dialektisches Monster, das einerseits ja die kulturelle Differenz der verschiedenen Staaten bewahren will, die es andererseits zugleich mit seiner europäischen Umarmung auslöscht.

Bulgarien wird kaum in der Lage sein, dem einen substantiellen Widerstand entgegen zu setzen. An Fremdherrschaft hat man sich hier schon lange gewöhnt. Im Unterschied zu den Osmanen, die bis ins späte 19. Jahrhundert den Lauf der Dinge bestimmten, suggeriert die EU zumindest Partizipation, transparente Entschlüsse und eine gewissen Austausch auf Augenhöhe.

Zunächst also wird Europa samt seiner ästhetischen Zumutungen in Bulgarien weiter geprobt und in einer Willkür, die den ausländischen Spaziergänger nur amüsieren kann, den einheimischen Gegebenheiten anverwandelt. Nicht nur die Viersterne-Sehenswürdigkeiten aus dem Marc O´ Polo-Reiseführer laden zum Fotografieren ein, sondern genauso die alte Rutschbahn, die am Strand langsam vor sich hinrostet und in ihrer vergangenheitsseeligen Rohheit das Panorama des Schwarzen Meers um ein weiteres Detail ergänzt. Wobei dem Touristen unwillkürlich der konditionierte Kommentar durch den Kopf schießt: »Das müsste aber demnächst abgerissen werden!«

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