Der gute Verrat

Transparenz Das Whistleblowing im Internet schlittert in eine Krise, aber die Idee darf nicht sterben. Man muss sie nur besser umsetzen

Als Brigitte Heinisch sich 2003 mit dem Wissen um untragbare Zustände im Altenpflegewesen an die Öffentlichkeit wandte, stand dieser Schritt am Ende eines langen Weges. Brigitte Heinisch ist ehemalige Pflegerin der Vivantes GmbH in Berlin und wurde Zeugin pflegebedürftiger, alter Menschen, die in ihrem eigenen Kot und Urin lagen oder ohne gerichtlichen Beschluss an ihre Betten fixiert wurden. Sie wurde Opfer von so genanntem Bossing, dem Mobbing durch den Chef – Konsequenz ihres Versuchs, die offensichtlichen Missstände intern anzusprechen. Auf ihre Meldung der Missstände an die Staatsanwaltschaft folgte die Entlassung durch den Arbeitgeber. Sie muss ihr Recht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einklagen, weil es in Deutschland keine rechtliche Grundlage gibt, die Menschen mit Zivilcourage, wie sie, schützt.

Wären wir in den USA, so würde man Heinisch als Whistleblower bezeichnen und ihre Enthüllung hätte sicher juristische Folgen für die Verantwortlichen gehabt. In Deutschland aber fehlt ein Konzept für Brigitte Heinisch. Hier ist sie Geheimnisverräterin, eine Denunziantin, eine Nestbeschmutzerin. Wir Deutschen haben kein Konzept und kein Wort für sie – und wie es aussieht auch keinen Schutz innerhalb unserer Gemeinschaft.

Enttäuschte Erwartungen

Diese Situation steht im Widerspruch zu den Erwartungen, die wir als Staatsbürger teilen. Wir erwarten, dass unsere finanzielle Zukunftssicherung von niemandem verzockt wird und Politiker nicht fahrlässig vorgehen, wenn sie über Sachverhalte mit großer Tragweite entscheiden. Wir erwarten, dass niemand unsere Kinder in Schulen missbraucht, dass Hygiene in Krankenhäusern nichts ist, um das wir uns sorgen müssen. Wir erwarten, dass Steuerbetrüger und andere, die sich zum Nachteil der Gesellschaft bereichern, verfolgt werden. Diese Erwartungen sind unabhängig davon, welche Gesetze gerade gelten. Sie sind tief in unserem Wertesystem verankert, auf dessen Gültigkeit wir uns verlassen.

Oft stellen wir jedoch fest, dass Erwartungen dieser Art enttäuscht werden, dass die Systeme denen wir vertrauen, korrupt sind. Die Mechanismen und Abhängigkeiten unserer Gesellschaft werden immer komplexer und undurchschaubarer, so dass Korruption und Missbrauch zunächst oft nur von innen zu erkennen sind. Korruption und die Anfälligkeit dafür steigen mit der Komplexität und dem Grad der Geheimhaltung in einem System. Was also sollte die Verfolgung und Ausgrenzung derer legitimieren, die uns über korrupte Zustände innerhalb eines solchen geheimen Systems informieren?

Das Wissen darum, wo unsere Erwartungen nicht erfüllt werden, und auch darum, auf welche Weise sie enttäuscht werden, ist Grundlage für die Beurteilung dieser Probleme – und somit auch die Basis für jede Korrektur von Fehlern. Whistleblowing ist für eine Gesellschaft ein wichtiger Fehlerkorrekturmechanismus, und oftmals auch die Ultima Ratio, das letzte Mittel, um die Zustände zu verbessern. Es geschieht dort, wo Insider und Praktiker erkennen, dass etwas wirklich schief läuft. Und es ist die effizienteste Methode für positive Veränderung – wo man sie zulässt.

Effizienter Motor des Wandels

Die Erkenntnis um die Effizienz von Whistleblowing war eine der Grundlagen für die Schaffung von Wikileaks, einer Internetplattform, die den Geheimnisverrat in die Wohnzimmer von jedem bringen und salonfähig machen sollte. Auch sollte Wikileaks jene Whistleblower schützen, die aufgrund fehlender rechtlicher oder gesellschaftlicher Sicherheiten aus der Anonymität heraus agieren müssen.

Der Erfolg der Plattform gibt dem Prinzip dahinter recht, und zeigt auch, wie wichtig eine solche Plattform sein kann. Mehr als eine Million Dokumente wurden eingesandt, Hunderttausende davon publiziert. Das Projekt wurde vom eigenen Erfolg überrascht. Hatte man anfangs erwartet, vor allem Bürger in repressiven Regimen zu unterstützen, so sah die Realität anders aus. Es waren vor allem Dokumente aus demokratischen Ländern, die Wikileaks zugespielt wurden. Dies hat zum Teil mit dem Bekanntheitsgrad des Projekts und der besseren Anbindung an das Internet in diesen Ländern zu tun. Es zeigt aber auch, wie hoch der Bedarf an einer Whistleblowerlösung in den westlichen Demokratien ist und zugleich, wie morbide die Systeme sind, die diese Gesellschaften ausmachen.

Zudem wurde deutlich, wie häufig Fehlverhalten in Industrieländern negative Folgen in den wirtschaftlich schwächsten Regionen der Welt entfaltet. In einer globalisierten Welt hat das, was Unternehmen oder Regierungen in der so genannten Ersten Welt tun, auch Auswirkungen auf Wohlergehen, Gesundheit, Krieg oder Frieden in Ländern wie der Elfenbeinküste, Afghanistan oder Irak. Daher sollten Veränderungen in Industriestaaten auch aus anderen betroffenen Ländern heraus über Plattformen wie Wikileaks angestoßen werden können. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann technische Verfügbarkeit und Bekanntheitsgrad auch alternativer Plattformen dazu führen werden.

Die Schwäche von Wikileaks

Wikileaks hat das Whistleblowing verändert, einen Kulturwandel angestoßen und die Grenzen des Möglichen wie auch des Akzeptierten nachhaltig verschoben. Dieser Vorstoß der Zivilgesellschaft ist sehr wichtig. Er kann als Beispiel dafür dienen, was in einer global vernetzten Welt möglich ist.

Das Projekt ist so allerdings auch an seine eigenen Grenzen gestoßen. Die zunehmende Flut von Dokumenten war nicht mehr abzuarbeiten, strukturelle Schwächen wurden immer deutlicher und zudem wuchs der politische Druck auf die Organisation. Dieses Feedback ist sehr wichtig, um zu verstehen, wo die Schwächen des Projekts liegen und was für die Zukunft verändert werden müsste.

Die effiziente Nutzung der von Whistleblowern zur Verfügung gestellten Materialien muss dabei im Vordergrund stehen. Eine Plattform für Whistleblower ist eine neutrale Instanz und muss sich selbst als reine Dienstleistung begreifen. Dies betrifft vor allem die verlässliche Entgegennahme, Verarbeitung und Auswertung von Dokumenten. Diese Funktion darf sie nicht aus dem Auge verlieren und sie muss sicherstellen, dass sie selbst bei großem Zuspruch die Einsendungen diskriminierungsfrei abarbeitet. Auch funktionale Schnittstellen mit den klassischen Medien werden benötigt. Eine Whistleblowing-Plattform ist Zuarbeiter für Medien. Deren Aufgabe ist die Analyse, Aufbereitung, Kontextualisierung und Präsentation der Informationen gegenüber der Gesellschaft.

Gegenseitige Kontrolle

Die Verknüpfung von Whistleblower-Plattform und Medien bewirkt auch die gegenseitige Kontrolle und Stützung beider Seiten. Die Qualität der Berichterstattung wird überprüfbarer, die Mechanismen der Whistleblowing-Plattform unterliegen einer Revision durch unabhängige Journalisten und es entsteht ein gemeinsames Interesse daran, jene Menschen zu verteidigen, die den Schutz der Anonymität suchen müssen, solange sie anderweitig nicht geschützt werden.

Genau diesen Schutz gilt es jedoch zusätzlich zu etablieren. Die Gruppe von Menschen, deren Moral und Gewissen im Zweifelsfall mehr wiegen, als die Ansage oder der Befehl eines Vorgesetzten, wächst. Bisher tolerieren wir ihre Einstufung als Illegale. Es ist an der Zeit zu fragen, ob wir dies wirklich wollen und ob wir uns dies leisten können. Auch wenn technische Lösungen hier helfen können, so muss das Dilemma von gesetzlichem Unrecht und übergesetzlichem Recht endlich aufgelöst werden.

Wenn wir bereit sind, Whistleblower als Helden anzuerkennen, können wir vielleicht irgendwann einmal fragen, welcher Grad an Geheimhaltung für das gesunde Funktionieren unserer Gesellschaft akzeptabel ist und welcher Grad an Geheimhaltung nur legal sein darf. Diese Diskussion geht über das hinaus, was wir bisher bereit sind zu diskutieren. Alexander Solschenizyn sagte schon 1970 in seiner Nobelpreisrede, die Rettung der Menschheit bestünde darin, „dass alle alles angeht“. Die Umsetzung dieser Maxime liegt in den Händen unserer Gesellschaft und ihrer couragierten Bürgerinnen und Bürger. Brigitte Heinisch und viele andere gehen mit leuchtendem Beispiel voran.

Informanten sind in Deutschland geschützt, allerdings nicht umfassend. Zu unterscheiden ist zwischen einem indirekten und einem direkten Schutz. Journalisten haben ein Zeugnisverweigerungsrecht und sind nicht verpflichtet, die Identität ihrer Quellen preiszugeben. Auf Schutz von dieser Seite konnten sich Informanten bisher meist verlassen ein Journalist, der eine Quelle verrät, kann kaum damit rechnen, jemals noch von einer anderen informiert zu werden.


Um dennoch undichte Stellen zu finden, etwa in Behörden, kam die Staatsanwaltschaft jedoch immer wieder durch die Hintertür: Da Journalisten selbst sich nicht des Geheimnisverrats strafbar machen können, wurden sie häufig der Beihilfe zum Geheimnisverrat beschuldigt. 2005 wurden etwa die Redaktionsräume des Cicero durchsucht, nachdem das Magazin aus einem Geheimdokument des BKA zitiert hatte. Mittlerweile haben Gerichte und der Gesetzgeber reagiert, Journalisten sollen nicht mehr der Beihilfe, sondern nur noch dem schwer nachzuweisenden Vergehen der Anstiftung zum Geheimnisverrat beschuldigt werden können.


Für Informanten in staatlichen Institutionen gilt: Die Verletzung des Dienstgeheimnisses bleibt strafbar. Auch Whistleblower, die etwa Korruption, Datenschutzvergehen oder Verstöße gegen Gesundheitsvorschriften in privaten Unternehmen aufdecken, genießen nicht zwangsläufig Schutz. Wer Interna verbreitet, kann abgemahnt oder sogar gekündigt werden. Vorwürfe müssen erst intern vorgebracht werden, nur wenn das nicht zumutbar ist etwa weil sich die Vorwürfe gegen den Arbeitgeber selbst richten oder wenn intern keine Aufklärung erfolgt, darf eine Behörde eingeschaltet werden. Gerichte müssen in jedem Einzelfall entscheiden, ob es zumutbar gewesen wäre, zunächst den Arbeitgeber zu informieren. An die Öffentlichkeit zu gehen, ist nur in den seltensten Fällen rechtlich zulässig.

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Hintergrund: Klaus Raab

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