Und lassen Sie sich nicht von der Rhetorik einfangen, die ist sehr gefährlich!" Mit diesen Worten und einem Lachen verabschiedet mich Christian Zentner, ausgewiesener Experte für Hitlers Mein Kampf nach einem telefonischen Crashkurs zur aktuellen Forschungslage, Buch und Autor betreffend.
24 Stunden später stehe ich am Landhaus "Onkel Emil" in Potsdam, um den einzigen Künstler, der legal in Deutschland aus dem Buch lesen darf*, kennenzulernen. Serdar Somuncu begrüßt mich gutgelaunt. Eigentlich sei er ja völlig übernächtigt, sagt er. Genau die richtige Voraussetzung, um durch Brandenburg zu ziehen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Aufklärungsarbeit zu einem Buch, das alle kennen, aber kaum jemand gelesen hat: Mein Kampf von Adolf Hitler.
Kampf von Adolf Hitler.Der Kaffee ist schlecht, und zu Hause in Neuss ist morgen Premiere seiner neuesten Inszenierung. Ja, Somuncu wird dort dringend gebraucht und wäre auch lieber da, doch was er hier zu tun hat, ist einfach zu wichtig.Nach einem Auftritt in Fürstenwalde trat Almuth Berger, die Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg an Katrin Werlich von der veranstaltenden Heinrich-Böll-Stiftung heran, und fragte, ob es nicht möglich sei, diese Lesung noch durchs ganze Land zu schicken. Die Stiftung und der Künstler stimmten zu, auf unkompliziertem We ge stellte das Land die Finanzierung zur Verfügung, Frau Werlich und ihre KollegInnen organisierten innerhalb dreier Tage ein dreiwöchiges Programm. Das große Interesse von freien Trägern und Schulen gab der Sache den nötigen Auftrieb.Doch was genau veranstaltet der 30-jährige Schauspieler auf der Bühne?Die erste Station an diesem Tag ist das Marie-Curie-Gymnasium in Wittenberge.Eine Lehrerin spricht ein paar einführende Worte, die ihre Befangenheit und Unsicherheit im Umgang mit dem Buch beschreiben. Wie zur Bestätigung vermeidet sie es tunlichst, den Namen desselben auszusprechen. Das holt Somuncu sofort nach, weist amüsiert darauf hin und spricht es aus: Mein Kampf. In diesem Augenblick läutet der Schulgong.Der in Istanbul geborene Schauspieler beginnt mit einer kleinen Einführung zum Buch und sich selbst. Es folgt ein Vorgriff auf das, was man als FAQ, frequently asked questions, bezeichnen könnte. Ob man denn darüber lachen dürfe, beantwortet er damit, dass es nicht einfach sei, bei der Lektüre des Buches ernst zu bleiben. Dass man klatschen dürfe, sei selbstverständlich, schließlich lebe er als Schauspieler ja davon. Die Antwort auf die Frage, ob denn auch Einschlafen erlaubt sei, hellt viele der skeptischen Gesichter merklich auf. Das Buch langweile einfach quer durch alle politischen Lager, wer also von etwas Schönerem träumen wolle, solle ruhig die Augen schließen. Alles, was um das Buch herum geschehe, sei ohnehin hundertmal interessanter als das, was darin stehe.Die eigentliche Show beginnt. Die angenehme Stimme Somuncus verschwindet hinter dem verzerrten Gekrächze seiner Rolle. Hitler ist da. Und er schwafelt von seiner Geburtsstadt Brrraunau mit drei r, an der Grenze der, ihrer Wiedervereinigung harrenden, beiden deutschen Staaten. Die Skepsis kehrt zurück in die Gesichter, ungläubig, fast erschrocken wirken die SchülerInnen in der Aula.Erst als Hitler dem deutschen Mädchen den Weg zur deutschen Mutter vorzeichnet, ist das Lachen wieder da. Es ist befreit, sie haben sich der Komik des Buches ergeben, er hat sie in der Tasche.Die Choreographie des Vortrages ist wie für diese VIVA- und Computerkinder entworfen. Harte Schnitte zwischen Spiel und Kommentar. Oft wird erst im zweiten Satz klar, in welcher Welt Somuncu gerade tanzt. Allgemeine Daten zum Buch wechseln mit den lächerlichen sexuellen Anspielungen des kleinen Österreichers, Beschreibungen des aussichtslosen Kampfes der bayerischen Behörden gegen die Verbreitung des Buches, mit den unsäglichen Vergleichen aus dem Tierreich, die sich zuhauf in Mein Kampf finden. Inflationär verwendet Hitler Analogien, die keine sind. Pferde, die Generationen ihren Dienst getan haben, müssen dem Auto weichen, so wie die minderwertigen Völker dem einen, arischen. Somuncu/Hitler geifert, spuckt, schreit, überschreit sich, kotzt seine dreckige Botschaft in die Welt.Die Auszüge sind klug gewählt. Der Schwachsinn wird offensichtlich, die ZuhörerInnen können beim besten Willen nicht ernst und betroffen bleiben. Und während sie lachen, scheinen sie zu vergessen, was diesen Mann und sein Buch so besonders macht: das hier angekündigte Verbrechen. In dem Moment, da sich in mir Unbehagen darüber breitmacht, wird Somuncu leise und lässt Hitler die Rache ankündigen, Giftgas gegen Giftgas ausrufen, den Tod von tausend Juden für jeden gefallenen deutschen Soldaten fordern. Kein Lachen ist zu hören.Somuncu gibt Informationen: Dolchstoß, Hitlers Kriegsverletzung, Biografisches, die Psychologie der Propaganda. Und mittendrin: "Wenn ihr Mein Kampf gekauft habt, könnt ihr's auch aufs Klo legen, habt dann aber das Problem, dass ihr nicht so lange scheißen könnt, wie das Buch dauert." Sie lachen wieder. Der Pfad zwischen pädagogischem Anspruch und dem Hunger des Schauspielers nach Applaus ist schmal. Nein, ganz sicher verharmlost er das Buch nicht, er benutzt es. Er weiß um die Bedeutung des Buches und seiner Arbeit. Der Mythos, den er brechen will, ist sein Geschäft, und er macht es gut, sehr gut.Das Kapitel "Volk und Rasse" zelebriert er geradezu. "Ein Fuchs ist immer ein Fuchs", der Unsinn ist zum Brüllen komisch. Davor erzählt Somuncu über die englische Ausgabe, an der Bertelsmann über Verlagsanteile gut verdient. Die Schnitte werden härter, das Finale rückt näher. Hitlers Bekenntnis zur Selbsthilfe, zur Wiederherstellung des Naturrechts, entschlüsselt Somuncu mit dem Verweis auf die letzte Konsequenz dieser Wahnidee: das KZ. Er fordert die SchülerInnen auf, nicht das Buch zu verteufeln, sondern die Hitlers im Alltag zu stoppen, durch die eigene Courage. Mitten in Brandenburg.Auf den Tisch trommelnd und jegliches Maß verlierend schildert Hitler seinen Eintritt in die Deutsche Arbeiterpartei (DAP). Dämonisch wirkt die Figur da vorne, wie sie von der Schaffung einer neuen Bewegung fieberphantasiert. Die Show ist zu Ende, anhaltender Applaus, der Künstler hat seinen Job getan.Die Fragen, die nun folgen, sind eher technischer Natur, ob das Buch denn in Österreich erhältlich wäre, wann Somuncu es das erste Mal gelesen hätte. Zu befangen scheinen die SchülerInnen, um politisch zu diskutieren. Es braucht Zeit, das gerade gehörte Stakkato zu verdauen. Erst nach Ende der Veranstaltung versuchen Einzelne, genauer nachzufragen. Sie sind noch unschlüssig darüber, wie sie mit dem Thema umgehen sollen, die Fragen bleiben vage. Es wird klar, der Gesprächsbedarf ist groß, aber wo anfangen? Somuncu bricht die Diskussion ab. Es sei ja nicht seine Aufgabe, die Leute zu therapieren, sagt er später. Und Almuth Berger pflichtet ihm bei. Die Nacharbeit liege im Aufgabenbereich der Schule, Beratung und Informationen werden LehrerInnen auch zu diesem Thema vom Schulberatungssystem der Initiative "Tolerantes Brandenburg" geboten. Die Veranstaltungsform sei ja als bewusster Gegensatz zum gewöhnlichen Geschichtsunterricht gewählt. Sie soll ein Nachdenken über und die weitere Beschäftigung mit dem Stoff provozieren. Und es fällt tatsächlich schwer, sich die Wittenberger SchülerInnen so interessiert und konzentriert bei einem trockenen Vortrag vorzustellen.Der Konflikt zwischen künstlerischem und aufklärerischem Anspruch sei nur in geringem Maße einer, da die Zielgruppen der Veranstaltung ganzheitlich angesprochen werden sollen. Aller Erfahrung nach ist es eben leichter, junge Menschen auf einer eher emotionalen als rein intellektuellen Ebene anzusprechen. Das eine soll ins andere überleiten. Und besonders gut eigne sich eben ein künstlerisches Konzept, das die Propaganda nicht mystifiziert sondern in all ihrer Abstrusität entlarvt.Somuncu ist zufrieden, die SchülerInnen haben zugehört, gelacht und begonnen nachzudenken. Ihre Gedanken in Bewegung zu halten, sieht er als wichtigste Aufgabe, und die Demaskierung Hitlers ist seine Methode, genau das zu erreichen.Der nächste Auftritt im Neuruppiner JFZ "Liveclub" ist erst in vier Stunden. Zeit, um durch die, sehr preußische, Innenstadt zu spazieren und zum Essen im Brandenburger Hof einzukehren. Der Sauerbraten zu Hause in Neuss ist besser. Somuncu erzählt vom Tourstress, den Sorgen um die morgige Premiere und seiner Hoffnung, sich auch mal wieder über etwas anderes als Adolf Hitler unterhalten zu können, normal zu sein. Die provokanten Inszenierungen seines Theaters in Neuss haben ihn bekannt gemacht, ihm aber auch jede Menge Ärger eingehandelt, mit Kirchen, Politikern und der Presse. Er gefällt sich als enfant terrible, es ist die Rolle, in der er wirklich aufgeht, mit all ihrer Anerkennung und all ihren Problemen. Er erzählt von seinem Projekt Schuldig, in dem er Prozesse wie die des Herrn Freisler, der Frau Benjamin, den um die RAF oder das DDR-Politbüro nach den Gerichtsakten auf der Bühne rekonstruiert. Die Kontroverse um die Zusammenstellung der Fälle ist einkalkuliert. Somuncu will hinter die Personen blicken, sie verstehen, so wie den Hitler. Erst dieses Verstehen macht es, seiner Auffassung nach, möglich, Fragen nach Ursachen und Wirkungen zu beantworten, oder überhaupt zu stellen.Im Liveclub, einem Jugendprojekt der Extraklasse in einer Gründerzeitvilla, angekommen, wird er sofort von drei Jugendlichen in Beschlag genommen, zwei Roma aus Ex-Jugoslawien und ein kurdischer Türke, Flüchtlingskinder. Sie fragen ihn aus, nicht über Hitler und Mein Kampf. Ob er eine Freundin hat, ob er das Flüchtlingsheim in Düsseldorf kenne. Sie erzählen ihre Geschichte und Geschichten, von der Flucht, von Mädchen, davon, als Ausländer in Neuruppin zu leben, von Einkaufsgutscheinen, von den Deutschen. Es ist eine "normale" Unterhaltung, die vier wechseln nahtlos vom Deutschen ins Türkische und wieder zurück. Somuncu genießt die unerwartete Unbefangenheit, redet über Musik, fragt nach den Eltern, den Freundinnen, lacht.Das Publikum ist älter, es ist ein "linker" Club, Serdar Somuncu ist unter Freunden. Hier muss er nicht über die von Hitler beklagte Schmach des Diktatfriedens von Versailles referieren. Er spielt freier und intensiver als in der Schule. Er gibt groteskeste Beispiele der faschistischen Rhetorik, spricht ausführlicher über die Psychologie der nationalsozialistischen Propaganda."Ich...", 20 Sekunden lang folgt nichts. Nein, er hat nicht übertrieben, es ist ein Originalzitat aus einer Parteitagsrede Hitlers. Das Publikum lacht und versteht. Der pädagogische Auftrag wird gewissenhaft erfüllt, entspannter aber als in Wittenberge. Das homogenere Publikum macht es Somuncu leicht, nur für sie zu spielen. Wie er selber sagt, ist das Programm nicht starr, sondern variabel, den Anlässen angepasst und geprägt durch Improvisation und den Dialog mit dem Publikum.Großes Interesse besteht an seinen Erfahrungen mit extremen Rechten, deren Reaktionen auf die Lesung, eventuelle Auseinandersetzungen. Es habe nie ernste Schwierigkeiten gegeben, ein paar Drohungen vielleicht, mehr aber nicht. Es komme leider auch nie wirklich zu einer Diskussion. Auch die Rechten können mit dem Buch nichts anfangen, und durch ihn, den Türken, damit konfrontiert zu sein, überfordere sie einfach.Er ist sich seiner sehr sicher. Am Ende des Tages äußert er sich zufrieden über die Auftritte und die Reaktionen und bekräftigt seinen Glauben, etwas bewegt zu haben. Und das hat er tatsächlich. Das Buch hat für die, die ihn heute sahen, zumindest einen Teil der geheimnisvollen Aura verloren. Darüber darf man lachen. Die Verbrechen des Holocaust jedoch bleiben unfassbar, und Serdar Somuncu arbeitet daran, dass sie nicht vergessen werden.Weit nach Mitternacht ist der Schauspieler wieder zurück bei "Onkel Emil". Er lernt seinen Text für die Premiere am Abend in Neuss.*) Der zuständige Staatssekretär im Bayerischen Finanzministerium gab nach dem Besuch einer Vorstellung Somuncus die Erlaubnis zur weiteren Aufführung.Hitlers "Mein Kampf"Der ursprünglich geplante Titel für Hitlers Selbstzeugnis und Hauptwerk Mein Kampf sollte "Viereinhalb Jahre gegen Lüge, Dummheit und Feigheit" lauten. Den ersten Teil des Buches, mit dem Untertitel "Eine Abrechnung" diktierte Hitler seinem Fahrer Emil Maurice und später Rudolf Heß während seiner Fes tungshaft in Landsberg im Jahre 1924. Die erste Ausgabe erschien fünf Monate nach der Neuzulassung der NSDAP, die nach dem Putschversuch 1923 verboten worden war, im Juli 1925 beim parteieigenen Eher-Verlag. In diese Zeit fällt auch die beginnende Etablierung Hitlers als uneingeschränkte Führerfigur der Partei und die Gründung der SS im November 1925. Im Dezember 1926 folgte der zweite Band mit dem Untertitel "Die nationalsozialistische Bewegung". Ab 1930 schließlich erschienen beide Teile in einem Band. Bis auf einen Punkt, den Wegfall der germanischen Demokratie zugunsten des Führerprinzips, lehnte Hitler jede weitere Änderung ab. Der zweite Teil des Buches enthält die Beschreibung der Parteigeschichte bis zum Putsch von 1923, während der erste Teil hauptsächlich Hitlers Leben darstellt. Die umfangreichen autobiographischen Angaben werden von Wolfgang Wippermann in der Enzyklopädie des Nationalsozialismus als "lückenhaft und zum Teil sogar falsch" bezeichnet. Ebenso betont er das Überwiegen der programmatischen Aussagen, deren Zentrum bereits die Forderung nach "Lebensraum im Osten" und die "Entfernung der Juden" sind. Zwischen 1933 und 1945 war Mein Kampf ein Standardwerk, das zu Eheschließungen, Schulabschlüssen und anderen festlichen Anlässen als "offizielles" Geschenk überreicht wurde. Es erreichte eine Gesamtauflage von zehn Millionen Exemplaren und wurde in 16 Sprachen übersetzt. Bemerkenswert ist, dass es eine französische Vorkriegsausgabe zu Propagandazwecken gab, in der die besonders antifranzösischen Passagen gestrichen wurden. Die Rechte für das Buch gingen nach dem Krieg an das Bayerische Staatsministerium für Finanzen, das gegen Raubdrucke in aller Welt klagt. Trotzdem liegt Mein Kampf heute in unbekannter Auflagenhöhe und in unzähligen Sprachen vor. Neben vielen anderen gibt es auch eine hebräische Übersetzung. In der BRD ist das Buch in den Bibliotheken nur für Forschungszwecke zu erhalten und auch dort häufig nicht als Leihexemplar. Wie Michael Volk vom Münchner Institut für Zeitgeschichte betont, ist dies aber hauptsächlich der Tatsache geschuldet, dass es sich bei den Originalausgaben um bibliographische Seltenheiten handele. Im Zeitalter der weltweiten Vernetzung ist es nicht mehr schwer, Mein Kampf trotzdem zu erhalten. Wo früher noch eine Reise zu einem Schweizer Antiquariat nötig war, genügt heute oft ein kurzer Mausklick ins Internet, wo der komplette Text problemlos erhältlich ist. Es gibt Schätzungen, nach denen nur 0,02 Prozent der Deutschen das Buch gelesen haben. Literatur: Christian Zentner: Adolf Hitlers "Mein Kampf": eine kommentierte Auswahl. 8. Auflage, List, München 1992, 255 Seiten Karl Lange: Hitlers unbeachtete Maximen: "Mein Kampf" und die Öffentlichkeit. Kohlhammer, Stuttgart 1968, 211 Seiten Wolfgang Benz (Hrsg.): Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Klett-Cotta, Stuttgart 1997, 900 Seiten Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine Lesung von Helmut Qualtinger. Ausw. und Zsstellung der Texte: Peter Müller-Buchow. Preiserrecords, Wien 1989, 2 CDs
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