Man hätte glauben können, selbst das Wetter sei für eines der wichtigsten Ereignisse im Wahljahr inszeniert worden. Am vergangenen Sonntag, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, drangen die gleißenden Sonnenstrahlen auch auf das viele Meter unterhalb der Straßenebene New Yorks liegende Ground Zero, wo in einer hochpatriotischen Zeremonie der Grundstein für den Freedom Tower, das neue World Trade Center, gelegt wurde.
George Pataki, republikanischer Governeur des Staates New York und offizieller Bauherr auf Ground Zero, wurde viel dafür kritisiert, den Baubeginn des Freedom Towers so weit nach vorne gezogen zu haben. Zu naheliegend schien die Möglichkeit, dass der Governeur das Rampenlicht für die Wahlwerbung der eigenen Partei nutzen und aus der Erinnerung an den 11. September 2001 eine republikanische Angelegenheit machen würde. Schließlich findet ebenfalls in New York in knapp sechs Wochen die republikanische Vollversammlung statt, bei der George W. Bush offiziell zum Präsidentschaftskandidaten ernannt werden wird.
Dass solche Gesten im politisch aufgeheizten Klima des amerikanischen Wahljahres mitunter durchschlagenden Erfolg haben können, mag aus europäischer Perspektive überraschen. Aber die Vereinigten Staaten sind kein Land, in dem politische Entscheidungen mit ausgeprägt logischem Kalkül getroffen werden. Mindestens ebenso wichtig wie diplomatische und fiskalische Balanceakte waren hier immer schon emotionale, ideologische und symbolische Bildentwürfe. Zu solchen nationalen Leitbildern gehört neben der Metapher des von Gott gesegneten Volkskörpers und neben den Ängsten vor der Bedrohung durch fremde Mächte, kommunistische oder radikalislamische, vor allem das eng mit dem amerikanischen Demokratieverständnis verwobene Pathos der Freiheit.
Als mit dem World Trade Center und seinen 2794 Bewohnern einer der ikonischen Bindungspunkte der amerikanischen Identität zuerst in Flammen aufging und dann in Schutt und Asche zerfiel, wurde dies zu allererst als Angriff auf die Freiheit des amerikanischen Volkes gewertet. Der wochenlang qualmende Krater von Ground Zero wurde zum überdimensionalen Wahrzeichen für dieses Verständnis: Massengrab und Projektionsfläche für ein ums Vielfache gesteigertes Nationalempfinden zugleich. Die symbolische Sogkraft dieses Ortes basierte dabei auf seiner buchstäblichen Leere. Ground Zero wurde zum Nullpunkt der modernen amerikanischen Geschichtsschreibung stilisiert. Die Absenz des World Trade Centers wurde zur Metapher für eine neue globalhistorische Etappe.
Ein derart aufgeladener Ort kann nur mit etwas bebaut werden, das diese massive symbolische Aufladung noch zu übersteigen imstande ist. Daniel Libeskinds bedeutungsschwangerer Entwurf des Freedom Towers (Freitag 12/2003), inklusive seiner sehr poetischen Gedenkstätte, konnte diese Bedingung exzellent erfüllen, und die Inszenierung der Grundsteinlegung stand dem vom Libeskind-Entwurf vorgegebenen symbolischen Niveau um nichts nach. Die erklärte Absicht der Zeremonie war die Produktion von fernsehtauglichen Bildern zur Pflege des Gemeinschaftssinns. Kein Redner scheute nationales Pathos. Niemand sparte mit Verweisen auf die heroischsten Momente der amerikanischen Geschichte. Immer wieder wurde zufrieden bemerkt, dass das neue Hochhaus in allegorischer Entsprechung zum Jahr der Unabhängigkeitserklärung 1776 Fuß hoch sein und dass in seiner Spitze die Fackel der Freiheitsstatue ihr architektonisches Echo finden würde. Der jugendliche Sohn eines schwarzen, am 11. September getöteten Polizeibeamten las einige Zeilen aus der Unabhängigkeitserklärung. Geistliche verschiedener Religionen hielten patriotische Erklärungen, und ein Tenor der Metropolitan Opera sang unter dem im Wind wehenden gesternten und gestreiften Flaggenmeer "God Bless America". So wurde für die geistige Untermauerung und den emotionalen Klimax des Ereignisses gesorgt. Die Quintessenz der Zeremonie - der zunächst enthüllte und dann in den Baugrund eingelassene schwarze Grundstein - zollte mit seiner silbernen Inschrift dem "lang anhaltendem Geist der Freiheit" Tribut. Worum es ging, so ein Redner, sei nicht nur die Wiedergeburt von Lower Manhattan, sondern auch die Wiedergeburt der durch den internationalen Terror bedrohten amerikanischen Freiheit.
Was vom Rest dieses sonnigen vierten Juli blieb, dürfte für viele Besucher und Fernsehzuschauer dennoch das Gefühl einer gewissen Schalheit, und für die Europäer unter ihnen das Gefühl einer Irritation hinterlassen haben. Glücklicherweise haben jedoch auch solche Symboliken und Bilder nur eine bestimmte Halbwertszeit. Ebenso wie Daniel Libeskinds Wolkenkratzer-Entwurf von der harten Realität der Baubarkeit eingeholt wurde und in der jetzigen Planung für das Gebäude eigentlich kaum noch wiederzuerkennen ist, könnten auch die Symbolik der Grundsteinlegung und die republikanische Strategie zur imagininären Monopolisierung von Ground Zero bald an Durchschlagkraft verlieren. Die im März lancierte Werbekampagne der Regierungspartei, bei der das Engagement von George W. Bush nach den Terroranschlägen im Mittelpunkt stand, musste inzwischen aufgrund einer Klagewelle der Hinterbliebenen von Terroropfern abgesetzt werden. Und selbst auf sonst eher regierungsfreundlichen Fernsehkanälen zeigte man sich damit unzufrieden, dass die Zeremonie augenscheinlich nicht wirklich einen realen Baubeginn markiert.
Noch ist vollkommen unklar, wie die 1,3 Milliarden Dollar für den Freedom Tower aufgebracht werden sollen, ob das Gebäude jemals genug finanzkräftige Mieter haben wird und ob es überhaupt den Entwürfen gemäss gebaut werden kann. Schon jetzt sagen Verantwortliche, dass es sich bei der symbolischen Grösse des Bauwerks lediglich um einen Näherungswert handele. Nicht einmal der Plan der vielzitierten Spitze des Freedom Towers, so wird spekuliert, wird die reale Bauphase überdauern. Nach der Zeremonie jedenfalls wurde der schwarze Grundstein gleich wieder vom Baugrund entfernt und ein paar Meter weiter abgelegt, wo er auch noch für die nächsten Wochen zu sehen sein wird. Die Arbeiten zur Verstärkung des Untergunds waren noch nicht ganz fertiggestellt.
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