Wenn man heute durchs East Village läuft, das New Yorker Stadtviertel zwischen vierzehnter Straße, Broadway und East River, fallen neben den winzigen Deli-Läden und den wahnwitzig beleuchteten indischen Restaurants vor allem gediegene Wohnhäuser ins Auge. Um den St. Marks Place herum gibt es noch ein paar unabhängige Buch- und CD-Läden für die Touristen, aber ansonsten merkt man wenig vom alten Charme. Man mag kaum glauben, dass man sich in der amerikanischen Geburtsstätte von Punk, Graffiti, Neoexpressionismus und Performancekunst befindet.
Für etwa ein halbes Jahrzehnt zu Beginn der 1980er Jahre hielt die East-Village-Szene die globale Kunstwelt fest im Bann. Kiki Smith, Cindy Sherman, Jenny Holzer, Jeff Koons, Nan Goldin und viele andere Amerikaner des zeitgenössischen Kunstkanons hatten hier, in den Galerien zwischen den Avenues A und C, ihre Laufbahnen begonnen. Angezogen durch die vitale Punk-Szene mit Stars wie den Ramones, den Talking Heads und Blondie, durch die florierende Club-Kultur und nicht zuletzt durch die aufsehenerregend billigen Mieten, ließ sich eine Reihe von Künstlern und Galeristen in dem damals noch ziemlich heruntergekommenen Stadtteil nieder. Im Lokalkolorit zwischen Obdachlosen, Transvestiten, Strichern und Junkies suchte sich hier die linke Bohème ein Zuhause. Das Resultat war eine Subkultur, die, zwischen Hip Hop und High Art, den Mythos der Stadt New York mindestens ebenso entscheidend prägte wie die schicke Madison Avenue.
20 Jahre nach der künstlerischen Blütezeit des East Village hat das New Museum for Contemporary Art in New York die erste Retrospektive für diese Bewegung zusammengestellt und lässt dabei keinen ihrer namhaften Protagonisten aus. East Village USA versucht sich dabei nicht am relativ aussichtslosen Unterfangen, die verschiedenen Stile und Richtungen dieser Künstler unter einen kuratorischen Hut zu bringen. Als verbindendes Merkmal der unterschiedlichen Arbeiten scheint der Verve zu genügen, mit dem im politischen Klima der Reagan-Ära gesellschaftskritische Positionen bezogen wurden.
Von Jenny Holzer sind die Vorläufer ihrer Leuchtschriftbänder vertreten. Ihre einfachen Plakate mit fett in Schwarz gedruckten Sätzen von Gemeinplätzen, etwa "Morals are for little people", schlagen ironisch ebenso gegen den konservativen Zeitgeist wie gegen linksalternative Selbstgefälligkeit aus. Bilder von Jean-Michel Basquiats legendären Straßenkritzeleien hängen neben Fotos von Aktionen des anderen schwulen, an Aids verstorbenen Superstars der Szene, Keith Haring. Dessen Schaffen nahm mit Kreidezeichnungen auf Bürgersteigen und in U-Bahn-Stationen seinen Anfang. Die wohlkalkulierte, fotografische Selbstdokumentation der beiden Künstler bei ihren urbanen Kunstguerilla-Aktionen wirkt nicht nur wie ein Kapitel aus einem Handbuch für Postkonzeptualismus, sondern auch wie der rührende Beweis für einen beinah naiven Glauben an die soziale Wirksamkeit von Kunst.
Auf ähnliche Weise kam es den meisten der East-Village-Künstler auf den inzwischen etwas aus der Mode geratenen Gestus der Grenzüberschreitung an. Graffiti-Künstler wie Lee Quinones oder Futura 2000 attackierten in illegalen Sprayaktionen den Rassisimus der weißen Oberschicht. Ethel Eichelberger, Carmelita Tropicana und Karen Finley kannten in ihren Performancearbeiten mit geschlechtspolitischen Geschmacksgrenzen kein Pardon und verhalfen so dem amerikanischen Feminismus zu einer Glanzzeit. David Wojnarowicz, Arch Conelly und das Künstlerduo McDermott McCough brachten die Schwulenbewegung voran. Fotografen wie Peter Hujar und Nan Goldin hielten mit schonungslosen Fotos von HIV-Kranken und Aids-Toten gegen die religiös gefärbten Apokalypse-Diskurse, mit denen die Reagan-Regierung gegen die Homosexualität und Aids zu Felde zog. Subkultur, so scheint es, konnte damals noch etwas in Gesellschaft, Kultur und Politik bewegen. Symbolische Verstöße gegen die dominante Ordnung waren in Mode, und die Ästhetik von Untergrundströmungen geriet damals noch nicht sofort zum automatischen Bestandteil der MTV-Kultur.
Das heutige New York jedoch ist schon lange kein Zentrum für Subkulturen mehr, und auch die wilden Jahre des East Village fielen relativ zügig dem Gesetz des Hypes zum Opfer. In einem beispiellosen Akt von gentrification stiegen die Immobilienpreise in dem immer modischeren Stadtviertel dramatisch an. Galerien schlossen oder zogen ins benachbarte SoHo, und die meisten Künstler verließen die zum alternativen Abziehbild gewordene Szene. Die Erfolgreicheren unter ihnen gaben sich einem zuweilen hemmungslosen Ausverkauf hin. Erinnert sei nur an Kaffeetassen mit den Motiven von Keith Haring, die Anfang der neunziger Jahre westeuropäische Linksintellektuellen-Haushalte überschwemmten. Der Weg von den urbanen Guerilla-Aktionen zu den leicht verdaulichen Kaufobjekten wie Postkarten, Kaffeetassen und Schlüsselanhängern spiegelt dabei in gewisser Weise auch das Schicksal von ästhetischen Gegenbewegungen in unserer heutigen Kultur wider. Es scheint, als hätte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht nur die Praxis, sondern auch die Idee der künstlerischen Subkultur überlebt.
East Village USA kann in diesem Sinne wohl als eine gelungene, archäologische Unternehmung bezeichnet werden. Auch dem Essay des Kurators Dan Cameron im Begleitkatalog zur Ausstellung ist viel Nostagie für die verloren gegangene Zeit anzumerken, als Kunst noch protestorientiert und politisch grenzgängerisch sein konnte. Diese Nostalgie ist berechtigt. Die gegenwärtige, amerikanische Politkunst nimmt sich gegen den Glamour des alten East Village ziemlich traurig aus. Wie man sich beim seichten, kollektiven Bush-Bashing vor den Präsidentschaftswahlen überzeugen konnte, beherrscht heute die undurchdachte Platitüde das Feld. In Zeiten einer konservativeren Präsidentschaft, als es die von Ronald Reagan je war, lässt sich lediglich mit Kunst rechnen, die sich auf dem Niveau jenes unter Medienrummel abgehängten Bush-Portaits bewegt, das aus Skizzen von Schimpansenköpfen zusammengesetzt war.
East Village USA. New Museum of Contemporary Art, 556 West, 2nd Street, New York City. Katalog 35 $
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