Die Liebhaberin des Stils

Augenzeugin Zum Tod der amerikanischen Schriftstellerin und Kulturkritikerin Susan Sontag

Wenn sie das Wort ergriff, agierte sie mit großen Gesten. Ihr ganzer Körper sollte ihre Position deutlich machen. Fasziniert beobachtete ich Susan Sontag vor knapp drei Jahren bei einem Publikumsgespräch am Journalismus-Institut der New York University. Sie ärgerte sich über nicht durchdachte und patriotisch gefärbte Fragen. Dann fragte sie ungeduldig zurück oder verweigerte hochfahrend die Antwort. Leidenschaftlich agitierte sie für eine kritischere Publizistik und sprach sich vor den angehenden Journalisten dafür aus, dass sie anstelle des Fernsehens alle Informationsmöglichkeiten, auch ausländische Zeitungen und Internetlogs nutzen sollten. Zu einem Zeitpunkt, als sich Amerikas Öffentlichkeit einheitlich hinter den Terrorkrieg stellte, prangerte sie die Selbstzensur der Medienmacher als Bedrohung für die amerikanische Demokratie an.

In Europa wurde Susan Sontag in den letzten Jahren als prononcierte Amerikakritikerin geschätzt, doch ihr hiesiger Bekanntheitsgrad ist mit dem in den Vereinigten Staaten nicht zu vergleichen. Dort wurde sie in den sechziger Jahren zur regelrechten Popikone, sie war Intellektuelle und das, was die Amerikaner Celebrity nennen, in Personalunion. Nicht nur ihre markante Erscheinung mit den pechschwarzen Haaren und der leicht exzentrischen silbergrauen Strähne trug dazu bei. Vielmehr war sie ein natürlicher Star: extrovertiert, glamourös und fotogen. Sie erschien in Filmen von Andy Warhol und Woody Allen und wurde von Richard Avedon und Diane Arbus fotografiert. Die Starfotografin Annie Leibovitz, Sontags langjährige Lebensgefährtin, machte sie sogar zum Werbemodel für die Vodka-Marke Absolut, und die Comedyshow Saturday Night Live hatte eine viel verwendete Perücke im Fundus, die von jedem Fernsehzuschauer sofort als Kostüm für Susan Sontag identifiziert wurde.

Ihr Ruhm beruht im wesentlichen auf ihrem knappen essayistischen Schaffen: auf ihrem kulturelles Neuland betretenden Aufsatz Notes on Camp - Anmerkungen über Camp (1966), der weitsichtigen, medienkritischen Essaysammlung On Photography - Über Fotografie (1977) und der beeindruckenden, kulturpoetologischen Arbeit Illness as Metaphor - Krankheit als Metapher (1978). Sontag machte in ihren Essays nicht nur Phänomene aus Alltags- und Populärkultur zum akademischen und publizistischen Thema. Sondern sie wandte auf Film, Happening, Fotografie, Science-Fiction und Pornografie auch jene klassischen intellektuellen Standards an, die sie während ihres literarischen und philosophischen Studiums in Berkeley, Harvard und Oxford erlernt hatte. Mit einem schier unerschöpflichen Wissen, mit Originalität und analytischer Energie fütterte sie ihre unkonventionellen close readings mit Überlegungen zu Kant, Baudelaire, Rousseau, Benjamin, Schlegel oder Kafka. Immer machte sie dabei ihre eigene Wahrnehmung, ihre Vorlieben und Ambivalenzen zum Ausgangspunkt eines stilistisch eleganten und emotional gesättigten Schreibens.

Mit der Textsammlung Under the Sign of Saturn - Im Zeichen des Saturn (1980) führte sie Artaud, Barthes und Lévi-Strauss ins amerikanische Denken ein. Sie war einer von Joseph Brodskys ersten und begeisterten Fans, und als Elias Canetti seinen Nobelpreis erhielt, war ihr Essay der einzige, den es in englischer Sprache über ihn zu lesen gab.

Wie sie es geradezu apodiktisch im berühmten letzten Satz von Against Interpretation - Kunst und Antikunst (1966) formulierte, plädierte die Kulturkritikerin für eine Erotik im Umgang mit Kunst. Sie wandte sich gegen Interpretation unter der Lupe des Psychologischen und schrieb gegen die verborgene Sinnsuche der Hermeneutik an. Intensiv untersuchte Sontag die Implikationen von Stil, reflektierte die Ästhetik der Oberflächen und verfasste grundlegende Studien zu Sinnlichkeit und zur Ereignishaftigkeit von Kunst und Literatur - Impulse, die heute mehr denn je im Denkraum der Kulturwissenschaften nachhallen.

Der Erfolg der Kulturkritikerin Sontag war der Literatin, Theaterregisseurin und Filmemacherin Sontag, zumindest in Europa, nie vergönnt - weder für ihre beiden nach dem Muster des Nouveau Roman gestrickten Bücher aus den sechziger Jahren, The Benefactor - Der Wohltäter (1963) und The Death Kit - Todesstation (1967), noch für ihre nach fünfundzwanzig Jahren wieder aufgenommene schriftstellerische Arbeit mit Romanen wie The Volcano Lover - Liebhaber des Vulkans (1992) oder In America - In America (2002). Konventionell in Aufbau und Sprachverwendung, stiegen die beiden jüngsten Bücher zwar in die amerikanischen Bestsellerlisten auf, wurden jedoch - ähnlich wie ihre drei Filme und die 1995 im zerstörten Sarajewo im Licht von Taschenlampen inszenierte Beckett-Aufführung Warten auf Godot - von der Kritik eher reserviert aufgenommen. Mit Häme wurde zuweilen konstatiert, dass Sontag die auktoriale Erzählinstanz, gegen die sie sich in den sechziger Jahren noch so vehement ausgesprochen hatte, nun selbst anwandte. Die literarische Avantgardistin hatte sich in einen traditionellen Romancier verwandelt. Eine kokette Rolle, in der sie sich sichtlich wohlfühlte. Das Essay-Schreiben, sagte Sontag in einem Interview 1992, sei für sie immer wieder wie der Sprung in einen eisigen See gewesen. Sie benötigte neun Monate, manchmal ein Jahr zur Fertigstellung eines dreißigseitigen Aufsatzes. Das Schreiben ihrer Romane dagegen ging ihr einfacher von der Hand.

Die Agilität von Sontags außergewöhnlichem Denken, ihre immerwährende Offenheit für neue kulturelle und politische Entwicklungen war nirgends sichtbarer als in ihrer sozialen Kritik. Ob sie sich 1968 unter dem Eindruck des Vietnamkriegs für den "Kommunismus als Alternative zum amerikanischen Imperialismus" aussprach, oder 1982 auf einer New Yorker Veranstaltung für die polnische Bürgerrechtsbewegung Solidarnosc den Sozialismus als "Faschismus mit menschlichem Gesicht" bezeichnete, immer verstand sie es, Kontroversen jenseits der Maßgaben des politisch Korrekten anzustoßen. Wem sind ihre scharfzüngigen Kommentare nach dem 11. September nicht in Erinnerung, in denen sie die Bush-Regierung der Massenverdummung, der Terrorhysterie und des Bruchs diplomatischer Spielregeln zieh.

In den letzten Jahrzehnten wandte sie sich, ähnlich wie ihr französischer Kollege Jacques Derrida, verstärkt ethischen Fragen zu. Den Imperativ der Zeugenschaft, für den sie eintrat, dehnte Sontag für sich selbst denkbar weit: Immer wieder reiste sie selbst in Kriegsgebiete nach Hanoi, Palästina oder Sarajewo. In ihrer letzten Essaysammlung, Where the Stress Falls - Worauf es ankommt, die im März im Hanser-Verlag in deutscher Übersetzung erscheinen wird, rückt Sontag auch ihre Begeisterung für die schillernden Oberflächen der Populärkultur in ihrem früheren essayistischen Werk zurecht und gibt sich als zauberlehrlingshafte Denkerin, die vor der Verflachung und Omnipräsenz des Populären in Kunst und Kultur zurückschreckt.

Dass diese Bewegung des Denkens einer der wichtigsten Intellektuellen des 20. Jahrhundert nun einen endgültigen Halt gefunden hat, ist ein Anlass zu großer Trauer. Denn ihre Stimme, die in Europa und Amerika gleichermaßen zuhause war, und die den unsichtbaren und umso mehr wirksamen Regeln des Diskurses nicht mit Vorsicht, sondern mit Überzeugung und dem Mut zur Übertretung begegnete, wird angesichts des politischen Klimas in den USA und seiner kulturellen Spannungen mit Europa mehr denn je fehlen. Wer anders kann uns jetzt Amerika erklären?


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