Zwangsläufig stellt sich die Frage nach der Zeugenschaft, wenn sich Literatur und Film der Schreckensepochen der jüngeren Vergangenheit annehmen. Imre Kertesz´ Roman eines Schicksallosen, Alexander Solschenitzyns Archipel Gulag oder Ariel Dorfmans Der Tod und das Mädchen sind deshalb so wirksame Beschreibungen von Hitler-Deutschland, Stalin-Russland und Pinochet-Chile, weil sie das Fiktionale biografisch untermauern. Trotzdem bleiben Zweifel: Brauchen kollektive Verbrechen die authentische Beglaubigung der Opferperspektive, um ihren Weg in Worte und Bilder zu finden? Wer kann über Stephen Spielbergs Schindlers Liste, Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen oder Jonathan Littels Die Wohlgesinnten sprechen, ohne sich nach der Legitimation zu fragen, mit der sich diese Autoren den Schrecken aneignen? Oft genug ist das wichtigtuerische Pathos solcher Zweitverwertungen historischer Traumata auch ärgerlich.
Auf den ersten Blick gehört Nathan Englanders Roman Das Ministerium für besondere Fälle in die zweite Kategorie. Der 1970 geborene, preisgekrönte amerikanische Autor war gerade mal sechs Jahre alt und lebte in einer behüteten jüdischen Gemeinde auf Long Island in New York, als in Argentinien die rechtskonservative Junta-Regierung unter Führung von Jorge Rafael Videla mit einem Militärputsch an die Macht kam und das Land einem zweijährigen Staatsterror unterwarf. Im "Schmutzigen Krieg" wurden geschätzte 30.000 Studenten, Juden, Kommunisten und Intellektuelle von Videlas Geheimpolizei wahllos entführt, gefoltert und auf bestialische Weise ermordet. Für die Angehörigen galten die Opfer als "verschwunden". Ihre jahrelangen Nachforschungen bei Polizeistationen, Gefängnissen oder eben in jenem Ministerium, das Englanders Roman seinen Namen gibt, blieben nicht nur aussichtslos, sondern wurden zynisch abgewiesen und machten sie oft zu sozial Ausgestoßenen. Aus Angst, als nächstes Opfer des Staatsterrors zu werden, wollte kaum jemand mit ihnen zu tun haben. Die Praxis gilt als eine der grausamsten Terrormittel, unter anderem, weil sie die Überlebenden ohne den Leichnam und mit der Unmöglichkeit zum Trauern zurück lässt. Die "Madras de Plaza de Mayo", die berühmt gewordene Protestvereinigung der Mütter jener Verschwundenen, demonstriert heute noch jeden Donnerstag vor den Regierungsgebäuden in Buenos Aires.
Englander erzählt die Ereignisse aus der Perspektive von Kaddisch und Lillian Poznan, die sich auf die Suche nach ihrem entführten Sohn Pato begeben, und glücklicherweise kommt er dabei ohne das voyeuristische Gutmenschentum und die klammheimliche Romantisierung des Leidens aus, die das Genre der Traumaerlebnisliteratur allzu oft auszeichnen. Kaddisch ist der letzte Vertreter einer jüdischen Gemeinde, die einmal aus Prostituierten und Zuhältern bestanden hatte, die von den anderen argentinischen Juden ignoriert worden waren. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit dem Ausmeißeln von Namenszügen auf den Grabsteinen der anrüchigen Gemeindemitglieder, die versteckt auf einem separaten Friedhof begraben wurden. Bezahlt wird dieser Tagelöhnerjob von den inzwischen arrivierten, aber sich ihrer Herkunft schämenden Nachkommen der Prostituierten. Dieser Erzählstrang ist nur ein Mittel, mit dem es Englander gelingt, das Jüdisch-Sein als Tragikomödie zu gestalten. Genauso wie die Dynamik zwischen Kaddisch, dem einfach gestrickten Arbeiter-Vater, und Pato, seinem linken Studenten-Sohn, ist es die Quelle einer Reihe von Dialogen voller Witz und Liebe.
Englanders Charaktere haben einen lebenstüchtigen, selbstironischen Humor, der sie über lange Strecken des Terrors in psychischer Balance hält. Anstatt die Gräuel um sie herum auszublenden, machen Kaddisch und seine Familie Witze darüber - und über sich selbst. Eine von Patos Schimpftiraden auf seinen Vater beschreibt der Autor gemäß "der großen jüdischen Tradition des Dajenu" als "eine Liste der Schwächen seines Vaters, wobei jede auf der vorhergehenden aufbaute. Entscheidend bei dieser Form war, dass jeder einzelne Vorwurf, selbst wenn er Kaddischs einzige Unzulänglichkeit beschrieben hätte, bereits genug gewesen wäre." Einen anderen Streit der beiden resümiert er so: "Wie so viele Unterhaltungen in letzter Zeit endete auch diese wie sie begonnen hatte. Nichts erreicht, nichts verstanden. Vater-Sohn-Zeit, Kaddisch wusste sie zu schätzen, so oder so."
Es ist dieser souveräne und unprätentiöse Ton, der Das Ministerium zu einem Erlebnis macht, das den Leser virtuos durch die Lessingsche Gebetsmühle von Furcht und Mitleid schickt, das kein Auge trocken und kein Zwerchfell unbewegt lässt. Allerdings unterminiert genau diese Erzählkunst das Buch, je weiter es voranschreitet, unmerklich. Englander arbeitet souverän die historischen Fakten ab. Er beschreibt die horrenden, oft sexuellen Folterpraktiken der Junta-Milizen und die perversen Spiele der Terror-Regierung, die Pastoren mit verdeckten Lösegeldforderungen auf die Angehörigen der Verschwundenen ansetzt. Er lässt einen schwarzen Ford Falcon auffahren, das omnipräsente Symbol jener Schreckensjahre, und beschreibt die soziale Isolierung des suchenden Elternpaares, ihr psychisches Derangement, ihre vergebliche Gesuche bei hartherzigen Polizisten, kaltblütigen Generälen und in die Sache verwickelten Militärpfarrern. Englander buchstabiert die Schrecken nie aus, sondern deutet sie lediglich an oder umreißt sie knapp, eine emotional höchst effektive literarische Strategie. Er beschreibt eine Generalsgattin, die das in der Folterkammer geborene Baby einer "verschwundenen" Frau "adoptiert", und setzt sogar einen jener berüchtigten Henkersknechte in Szene, der die betäubten Folter-Opfer aus Flugzeugen einfach in den Rio de la Plata wirft. Mit Anleihen an Kafkas absurde Bürokratieszenarien und an philosophische Motive Walter Benjamins über die Auslöschung von Identität untermauert er das Ganze. Der Leser soll offensichtlich in die Gefühlslage jener "Madras de Plaza de Mayo" versetzt werden, jene ungewisse Schwebe, in der es weder wahr scheint, dass Pato noch lebt, noch, dass er umgebracht wurde. Bis zum Schluss des 448-seitigen Romans will das jedoch nicht ganz gelingen. Zu glatt fließt das Erzählen dahin, zu komisch sind die Situationen beschrieben, zu gleichmäßig die Motive gestreut. Das ist keine Sprache, die einen inkommensurablen Schrecken vermitteln könnte. Denn bekanntlich durchbrechen solche Traumata die tradierten Erzählstrukturen.
Historisch sind wir auf einer historischen Stufe angelangt, wo das kollektive Erinnern der Diktaturen in Argentinien, Deutschland, Chile oder der Sowjetunion vor allem durch Fiktionalisierungen angeregt wird, deren Autoren nicht mehr Zeuge der Ereignisse waren. Dass dabei das Unfassbare dieser Schrecken aufs allgemein Verständliche frisiert wird, scheint womöglich immer noch besser als das kollektive Vergessen, das ohne solche Beschreibungen einsetzen würde. Doch ein Zweifel bleibt. Literarisch ist Das Ministerium für besondere Fälle eine fast fehlerlose Leistung, und als solche dürfte das Buch wie im vergangenen Jahr in Amerika auch in Deutschland ein Erfolg werden. Aber es bleibt ein Roman, ein guter Roman. Nicht weniger, aber leider auch nicht mehr.
Nathan Englander Das Ministerium für besondere Fälle. Roman. Aus dem Amerikanischen von Michael Mundhenk. 448 S., Luchterhand, München 2008, 448 S., 19,95 EUR
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