Susan Sontag, die weise Doyenne der amerikanischen Intellektuellen, soll ihren Kollegen in ihren letzten Lebensjahren gerne einen - nachdrücklichen - Ratschlag mit auf den Weg gegeben haben: Das Werk eines Autors müsse anhand seines besten Buches bewertet werden, nicht anhand seines schlechtesten! In diesem Sinne sollte man auch Huren für Gloria, den Roman des Kaliforniers William T. Vollmann, lesen, der zwar nicht das schlechteste, aber auch nicht das beste Buch des explosiven Autors ist.
Der sensationell begabte und öffentlichkeitsscheue Vollmann galt für zwei Jahrzehnte als Amerikas literarischer Geheimtipp schlechthin. Von Literaturwissenschaftlern, Collegestudenten und Kritikern als dichtender Kronprinz des Untergrunds vergöttert, verfasste er in weniger als 20 Jahren - neben Erzählungen und Kriegsreportagen für amerikanische Magazine wie Esquire oder The New Yorker - sage und schreibe neunzehn Romane und Erzählbände. Der längste - Rising Up and Down (2003), eine intellektuelle Reflexion über Gewalt in ihren politischen, militärischen, privaten und terroristischen Formen - ist 2.300 Seiten lang und zehn Kilo schwer (und wird wegen seiner geringen Auflage als Sammlerstück ab einem Mindestangebot von 495 US-Dollar bei Ebay versteigert). Soviel Schreibwut scheint aus einer anderen literarischen Ära zu stammen. Selbst Anthony Trollope oder Charles Dickens mit ihrer viktorianischen Disziplin oder Honoré de Balzac mit seinem bourgeois-realistischen Selbstvertrauen dürften vor dieser Produktivität erblassen. Ganz abgesehen von Vollmanns Zeitgenossen.
Huren für Gloria spielt im Tenderloin, dem Rotlichtviertel San Franciscos, einem der liebsten Orte des Autors, der dort nicht nur mehrere Romane ansetzte, sondern auch seiner Obsession für Prostituierte so systematisch wie begeistert nachging. Am Ende des Buches findet man eine kurze Zusammenfassung dieser Forschungsarbeit, die detailgetreu über die Preise des käuflichen Geschlechtsverkehrs in den achtziger Jahren Auskunft gibt und in derselben nüchternen, journalistischen Sprache daherkommt, die Vollmann auch für seine Nachrichtenmagazin-Reportagen verwendet.
Eine intensive Recherche ist die Grundlage aller Romane des Autors. Wenn nicht in kalifornischen Rotlichtvierteln, fand diese in russischen und deutschen Archiven, im Kambodscha der Roten Khmer, auf kolumbianischen Leichenfeldern, in einer arktischen Wetterstation, in thailändischen Bordellen, kongolesischen Gefängnissen und im kriegstobenden Sarajevo statt. In Bosnien wurde der Autor sogar Opfer einer Landminenexplosion, bei der seine drei Begleiter getötet wurden und er nur durch großes Glück und eine schusssichere Weste mit dem Leben davonkam. Die Unerschrockenheit oder der manchmal einfach blanke Wahnsinn des Literaten übersetzt sich, wenn er schreibt, in eine geradezu monströse Form des intellektuellen Machismo, in ein Image vom knallharten und denkenden Mann, neben dem Ernest Hemingway wie ein schüchterner Primaner gewirkt hätte.
Dabei wirken Vollmanns Texte aber nicht wie die derzeit gängige, amerikanische "Non-Fiction", die detailgetreu grimmige Lebenschroniken dokumentiert und, sensationalistisch aufgemacht, hunderttausende Käufer findet. Vollmann nutzt seine Recherchearbeit als ein Sprungbrett für die Kreation von "Fiction", die soviel "Fiction" wie nur möglich ist: Seine Prosa ist von klassischen Autoren-Interventionen ebenso durchsetzt wie von postmodernen Erzähl-Verzweigungen und pseudo-dokumentarischen Chronologien.
Jimmy, der eigenartige Held von Huren für Gloria, ist ein alternder Alkoholiker und Vietnam-Veteran am sozialen Existenzrand und am Rande des Nervenzusammenbruchs. Er bezahlt seine Huren, um ihre Träume, Erinnerungen und, jawohl, Haarsträhnen zu bekommen und, natürlich, wenn er´s hinkriegt, Sex mit ihnen zu haben. Im Zentrum aller Bestrebungen Jimmys steht Gloria - eine phantasmagorische Figur, die er mit Hilfe der erworbenen, imaginären Güter der Huren auszustatten und dadurch zu (re)konstruieren versucht. Glorias Status bleibt unklar. Ist sie reine Fantasie, die perfekte Hure? Ist sie, wie angedeutet, Jimmys geschiedene oder verstorbene Ehefrau? Oder eine Jugendliebe; eine Kindheitsfreundin?
Der Roman entwickelt sich in der Form lose verbundener, narrativer Vignetten, von denen jede ein Juwel konzentrierten Selbsthasses ist. Die Beschreibungen der Szenen, in denen sich Jimmy ins Delirium befördert, sentimental herumfantasiert, fickt oder einfach herumirrt, sind Produkte einer manischen Vorstellungskraft, bei der sich Gewalt schlagartig aus Selbst-Ekel ergibt und neue Schmerzen unablässig aus alten Verletzungen folgen. Das ist nichts für schwache Nerven, für unruhige Mägen oder für zart besaitete, ach was, nicht einmal ganz solide besaitete Seelen. Das Gewimmel von Drogen, Sex, Alkohol, Schlägereien, Vergewaltigungen und Geschlechtskrankheiten dürfte für die meisten Leser ein Gefühlsgemisch aus Ekel, Scham und Bedrängnis provozieren, damit alles andere als angenehm.
Oft wurde Vollmann daher mit Charles Bukowski oder William S. Burroughs verglichen, die das alkohol- und substanzdurchtränkte Leben im Unterbauch der Gesellschaft literarisch glamourisierten. Aber mit Glamour hat das Ganze bei Vollmann wenig zu tun. Huren für Gloria triebe den beiden Autoren die Schamröte ins Gesicht. Vollmanns Beschreibungen sind, wenn so etwas überhaupt möglich ist, von einer ganz eigenen, unheimlichen Mischung aus Herzlosigkeit und Einfühlsamkeit bestimmt. Eine Hure beschreibt er als "kaputt, aber nicht hart und scharf kaputt wie ein Stück zerbrochenes Glas, nur abgenutzt wie ein dreckiger Radiergummi." Szenen entwirft er so plastisch wie: "Jack saß auf dem Bett und schoss sich einen Speedball in den Arm, und Dinah gähnte und kratzte ihre juckende Fotze."
Doch die besondere Bedeutung des Romans wie des ganzen Vollmannschen Werks, liegt nicht in seinen hartgesottenen Motiven, sondern in seiner dichten, evokativen Sprache. Im Deutschen lässt sich der ungewöhnliche Effekt von Vollmanns Grammatik etwas schwerer nachvollziehen als im Englischen mit seinen kurzen Sätzen. Aber die exzellente Übersetzung von Thomas Melle bewältigt diese Herausforderung glänzend. Vollmanns Sätze wirken wie kleine Maiskörner, um die herum immer mehr Wörter, Wortgruppen und Nebensätze gepackt werden, bis sie zu großartigem, buttrig-salzigem Popcorn explodieren. Sie sind schöne, unglaublich seltsame, angsteinflößende und präzise Gebilde zugleich, die sich manchmal seitenlang hinstrecken. Der alte Frankophilen-Witz über die homophone Verwirrung um Rambo und Rimbaud, Boxerfigur und Dichterheld, könnte für dieses Oeuvre nicht zutreffender sein: Vollmann kombiniert seinen extremen Machismo mit einem geradezu lyrischen Gespür für Klang und Poesie - ein ästhetischer Zusammenprall, der einen oft atemlos lässt.
Im letzten Jahr wurde Vollmann endlich die Anerkennung durch die breitere Öffentlichkeit zuteil, als er den National Book Award Amerikas für seinen Roman Europe Central (2005) verliehen bekam. Dessen miteinander verwobene Erzählungen über mit dem Feind kollaborierende Generäle in Stalin-Russland und Hitler-Deutschland, über Kollwitz, Achmatowa, Schostakowitsch und Gerstein, bewiesen auch dem letzten Zweifler, dass kein noch so gut gemeintes Name-Dropping und kein noch so wohlwollender, literarischer Vergleich der Originalität Vollmanns standhält. Von daher wirkt es fast schon verwunderlich, dass der Suhrkamp-Verlag gerade das 15 Jahre alte, nicht ganz so überzeugende Huren für Gloria ausgewählt hat, um die deutsche Leserschaft mit Vollmann vertraut zu machen. (Nur eine kurze Reisereportage über Afghanistan ist bisher auf deutsch im Mare-Verlag erschienen, die, wie der Autor selbst bekundet, sein schwächstes Buch ist.) Aber die Durststrecke bis zur deutschen Übersetzung von Europe Central kann es allemal verkürzen.
William T. Vollmann: Huren für Gloria. Aus dem Amerikanischen von Thomas Melle. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 199 S., 17,80 EUR
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