Zehn Tage und Nächte hatten wir uns die spannendsten Geschichten erzählt, über Toleranz und kulturelle Identitäten, die Überwindung von Hass und Gewalt, über die Gotteslästerung, Krieg als heilig zu erklären, über die Kraft von Literatur, von Liebe und Erotik, von der Freiheit des Wortes. Auch darüber, dass der schönste Kulturdialog kein Alibi dafür sein darf, die wirklichen Ursachen von Terrorismus aus dem Auge zu verlieren: die Demütigung des Südens durch den Westen - messbar an der extremen ökonomischen Ungleichheit - und die extremistische Glaubensverirrung von Islamisten.
Als unsere wohlbehütete Delegation von 30 arabischen und deutschen Schriftstellern und Literaturförderern trunken von der Schön
Schönheit dieses Garten Eden abreist, hat der Jemen mit seinen Farben, Düften und Klängen, mit seiner Güte und Gastlichkeit, unsere Herzen und Sinne erobert. Auch können wir hoffen, einen bescheidenen Beitrag zu besserem gegenseitigen Verständnis geleistet zu haben.Zwei Wochen später wird einer unserer couragiertesten und sachkundigsten Gesprächspartner erschossen: Jarallah Omar. Der Vizevorsitzende der Sozialistischen Partei und intellektuelle Kopf der jemenitischen Opposition ist in Europa kaum eine Erwähnung wert. Eher schon die am nächsten Tag vom selben islamistischen Täterkreis erschossenen drei baptistischen Ärzte aus den USA. Tragische, sinnlose Opfer fundamentalistischer Verbrecher allesamt - trauernd erinnern aber kann ich nur an die Freundschaft, die eben erst beginnen sollte. Wer war Jarallah Omar?Die 11. der Reise gewidmete Nacht ist eher schlaflos, versucht womöglich überhörte Andeutungen, Vorzeichen, Zwischentöne zu rekonstruieren. Glasklar lassen sich die Szenen abrufen, in denen die Gastgeber dem Ehrengast Günter Grass und seinem Gefolge das Gefühl gaben, "sicher wie in Abrahams Schoß" zu sein. Und das, obwohl das Auswärtige Amt unserer Delegation eindringlich von dem Vorhaben abgeraten hatte. Fast verhüllt vom elysischen Nebel die Frage, ob wir - nein, ob ich je besorgt war über die Sicherheit unserer Gesprächspartner?Die Einheit war gewollt - aber nicht soJarallah Omar gehörte als aufgeklärter und scharfsinniger Kopf zu den gern gesehenen Gästen in der Friedrich-Ebert-Stiftung in Sana´a. Im Süden - dort gründete sich 1969 die eigenständige Volksdemokratische Republik Jemen - war er Parlamentsabgeordneter. Man sagt, er wollte seine bisweilen noch von Dogmatismus geprägte Partei modernisieren.Bei einem festlichen Abendessen ist Jarallah Omar mein Tischherr. Nicht ganz zufällig. Die DDR unterhielt freundschaftliche Kontakte zu beiden Teilen des Jemen, baute im Norden das Telefonnetz und eine moderne Telefonzentrale in Taizz. Sie nahm 3.000 Jemeniten zum Studium auf. Überall begegnen uns diese fließend deutsch sprechenden Männer. Als Universitätsprofessoren, Chefärzte, Ingenieure oder Historiker sind sie heute ein gewichtiger Teil der akademischen Elite Jemens - im Unterschied zu denen, die damals als DDR-Bürger mit ihnen studiert haben. Über den ungleichen Lohn für gleiche Leistung wissen diese Jemeniten meist staunend Bescheid, denn sie haben noch Freunde in Ostdeutschland. Wovon auch ich profitiere, schnell kommt Vertrautheit auf.Im klimatisch benachteiligten Süden nahm man die von der DDR angebotene Entwicklungshilfe noch vorbehaltloser an. Jarallah Omar schildert mir, was das bedeutete: In der Landwirtschaft wurden gemeinschaftlich genutzte Maschinen-Traktoren-Stationen eingerichtet, polytechnische Bildung wurde übernommen, erstmals lernten Jungen und Mädchen in gemeinsamen Klassen, wahrscheinlich nach dem selben Mathe-Lehrbuch, wie zu meiner Zeit. Innerhalb einer Generation wurden die Analphabeten von einer Mehrheit zu einer verschwindenden Minderheit - und Frauen berufstätig. Männer gewöhnten sich selbst an die Autorität von Richterinnen.Teile des DDR-Familiengesetzes wurden eingeführt: die vom Koran dem Mann erlaubte Vier-Frauen-Ehe wurde verboten, die Ehe zu zweit setzte sich durch. Scheidungen kamen nicht wie zuvor (und heute wieder) dadurch zustande, dass der Mann die Frau vertrieb, sondern nur durch Gerichtsbeschluss. Männer klagten nicht aus Übermut, denn die Frau bekam Kinder und Haus. Blieb die Ehe kinderlos, durfte sich der Mann nur mit Einwilligung seiner Erstfrau eine zweite nehmen. Sogar lesbische Beziehungen wurden geduldet.Mein Tischherr sieht, wie ich mir Notizen mache, seinen Namen buchstabiere und sagt: "Sie können mich ruhig zitieren, ich fürchte mich nicht, zu meiner Meinung zu stehen." Einen Moment blicke ich irritiert, davon war ich sowieso ausgegangen.Unmittelbar nach der Revolution im Süden gab es nicht nur öffentliche Schleierverbrennungen, das Tragen des Schleiers wurde unter Androhung von sechs Monaten Haft verboten. "Aus heutiger Sicht meine ich, dass dies übertrieben war, aber wir sahen keine andere Möglichkeit, die Männer zur freiwilligen Aufgabe ihres Privatbesitztums Frau zu bewegen. Es schien uns nötig, den Bruch der Tradition zu erzwingen", sagt Omar. In Aden und anderen Städten seien die Neuerungen begrüßt worden, auf den Dörfern soll es schwieriger gewesen sein. "Für die übrigen arabischen Staaten war dieser Umgang mit dem geheiligten Schleier eine Katastrophe." Das kleine Land wurde politisch und ökonomisch isoliert, mit den Versorgungsmängeln stieg die Unzufriedenheit und mit ihr der ideologische Druck des Staates. Verboten wurden der Besitz und das für Männer imagebildende Tragen von Waffen, eingeschränkt der Konsum der geliebten Droge Kat.Kein Wunder, dass der Gedanke einer Vereinigung populär war und von beiden Seiten seit Jahren vorbereitende Gespräche geführt wurden. Als dann nach 1989/90 nicht nur die Hilfe aus der DDR, sondern auch aus der zusammenbrechenden Sowjetunion und aus Kuba ausbleibt, kann der Süden keine Bedingungen mehr stellen. Mit der Aufgabe des härteren südlichen Dinar (3,4 Dinar gleich 1 Dollar) und der Einführung des nördlichen Rial (178 Rial gleich 1 Dollar), hat der Norden sich durchgesetzt - bereits im Mai 1990 wird die staatliche Einheit verkündet.Die Guthaben der Sozialistischen Partei werden eingefroren, aber alle Parteien aus Nord und Süd bleiben legal. Nach mehrfacher Verschiebung finden 1993 Parlamentswahlen statt. Ali Abdullah Saleh, der auf Ausgleich bedachte Präsident des Nordjemen, gewinnt, aber auch die oppositionelle Sozialistische Partei schneidet respektabel ab. Jarallah Omar wird für fünf Jahre Minister für Kultur und Tourismus. Doch die Restauration des Islam und der alten Stammestraditionen vermag offenbar niemand aufzuhalten. Verteilungskämpfe beginnen, heißblütiger geführt als in Deutschland. Einige Vertreter des Südens möchten sich wieder abspalten, 1994 beginnt ein verlustreicher Sezessionskrieg, der mit der Einnahme Adens durch Regierungstruppen aus dem Norden endet. Der Krieg schwächt die Wirtschaft, die Demokratie und die Toleranz. Die Schuldigen fliehen ins Ausland."Die Einheit war gewollt, aber nicht so." Ist es mein Satz oder der des Mitglieds des Adener Schriftstellerverbandes? Als ich ihn frage, ob man sich hier ähnlich wie in Ostdeutschland als Bürger 2. Klasse fühle, lacht er hell auf und antwortet: "Als Bürger 10. Klasse." Er weiß wie es ist, wenn die eigene Lebensleistung nicht mehr anerkannt und die jüngste Geschichte diffamiert wird.Ein harmloses Beispiel erlebe ich bei einer Führung durch Shibam, dieses "Manhattan der Wüste" oder die "Poesie in Lehm", wie Günter Grass es nennt. Beim Gang durch die dicht aneinander gedrängten, oft siebenstöckigen Lehmhäuser, erklärt uns in hartem Englisch ein Touristenführer, der (wie nicht wenige jüngere Männer) sein grau werdendes Haar mit Henna hellrot gefärbt hat: In sozialistischen Zeiten sei hier alles enteignet gewesen, und traditionsfeindlich, wie Kommunisten seien, hätten sie die jahrhundertealten Häuser einfach verfallen lassen. Erst seit die Stadt von der UNESCO zum Weltkulturdenkmal erklärt wurde, ginge es wieder aufwärts. Alle nicken erleichtert, aber als einzige Ostdeutsche in der Gruppe bin ich skeptisch. Ich glaube ein Gespür dafür entwickelt zu haben, wo Klischees zu dick aufgetragen werden. Ich bitte einen uns begleitenden Geologen aus Mukalla, der in Greifswald promoviert hat, Einwohner zu fragen, wie das war, mit der Enteignung. Und ich bekomme zu hören, dass es nichts dergleichen gegeben habe, die Lehmhochhäuser immer den darin wohnenden Familien gehört hätten, die nach ihren bescheidenen Kräften versuchten, Material und Handwerker zu bekommen...Was stimmt? Wer hat Recht? Auf seine Art Günter Grass. Als er hört, nur noch drei über 70-jährige Männer wüssten um die Geheimnisse des Lehmhochhausbaus, regt er an, für dieses Gewerk eine Berufsschule zu gründen und spendiert auch gleich den finanziellen Grundstock. (Die UNESCO war auf diese naheliegende Idee bisher nicht gekommen.)In Schwarz gehüllte StimmenDie Besitzunterschiede zwischen Nord- und Südjemen sind nicht so gravierend wie die zwischen West- und Ostdeutschland. Die Armut ist flächendeckend. Aber wenn man fragt, wem heute die besseren Grundstücke und Häuser im Süden gehören, so werden nicht selten Offiziere oder einflussreiche Moslems aus dem Norden genannt.Ich habe auf den Straßen des Landes keine einzige unverschleierte Jemenitin gesehen. Die Frauen sind völlig verhüllt vom schwarzen Sharshaf, der nur einen winzigen Sehschlitz frei lässt. Selbst im Hotel-Restaurant balancieren die Frauen ihre gefüllte Gabel umständlich unter den Schleier und während unseres "Dialoges der Kulturen" hören wir in Schwarz gehüllte Stimmen, ohne im mindesten zu ahnen, mit wem wir es zu tun haben. Auf diese Demütigung angesprochen, wagt keine Frau zu klagen. Verteidigende Worte wie Gewohnheit und Tradition fallen.Ein einziges Mal gelingt es mir, eine kleine Einschränkung zu entlocken: Am Swimmingpool des Hotels in Aden spreche ich zwei Mütter an, die ihre planschenden Kinder beobachten, während ihre eigene Badebekleidung darin besteht, statt des Gesichtsschleiers nur ein Kopftuch über den schwarzen Umhang gebunden zu haben. Sie entpuppen sich als fließend englisch sprechende Gattinnen aus Regierungskreisen, die mit ihren Familien zum Ramadan in den warmen Süden geflogen sind. Sie kennen Europa, wir unterhalten uns angeregt. Endlich räumt die jüngere ein, es sei schon hart, in einem heißen Land mit Hunderten von Kilometern Meeresküste zu leben und nie baden zu können.Ich frage Jarallah Omar, folgerichtig und ahnungslos zugleich, weshalb seine Partei nicht mehr Zulauf unter Frauen habe. "Die Partei kann sich nur mit leiser Stimme gegen den Rückschritt aussprechen. Sonst würde sie in den Moscheen noch mehr angefeindet und bei Wahlen abgestraft. Der Islam ist auch unter Frauen stark." Lächelnd fügt er hinzu: "Meine Mutter ist moderner als meine Frau." Was er unerwähnt lässt und was ich erst nach seinem Tod erfahre: In den Jahren nach der Vereinigung sind allein zwölf Politiker seiner Partei von aus Afghanistan heimgekehrten Mujahedin oder militanten Islamisten unter dem Vorwurf der Ungläubigkeit ermordet worden.Erst beim rückblickenden, nächtlichen Blättern in meinen Notizen wird mir klar, dass dies in Omars Rede auf unserer Konferenz herauszuhören war, ich aber nicht nachgefragt hatte, als er sagte: "Alle arabischen Linksintellektuellen haben die Anschläge vom 11. September verurteilt, denn zuvor hatte Bin Laden bereits auf uns geschossen. Aber die westlichen Medien berichten aus arabischen Ländern fast nur über al Qaida und geben uns damit das Gefühl, sie wünschten ein klares Feindbild. Wir aber brauchen Unterstützung für unsere Überzeugung, dass auch in den arabischen Ländern der Weg zu mehr Demokratie über die Trennung von Kirche und Staat führen muss."Als sein langjähriger Freund, der im Pariser Exil lebende syrische Dichterfürst Adonis in einer Abschlusserklärung diese Forderung aufgreift, kommt es beinahe zu Tumulten und kein jemenitischer Autor wagt oder wünscht, die Forderung öffentlich zu unterstützen.Bush ins Gebet nehmen Am letzten Tag unseres Aufenthalts lädt uns der Präsident der jemenitischen Menschenrechtsorganisation, Hamood Abdulhamid al-Hitar, in sein Haus. Er ist zugleich Richter am Obersten Gericht und Initiator eines gewagten Projekts. Entgegen dem vom amerikanischen Geheimdienst gemalten Bild des Jemen als eines Sympathisanten religiöser Fundamentalisten wurden aus Afghanistan zurückgekehrte al-Qaida-Kämpfer und andere Extremisten ohne konkrete Anklage verhaftet, was moralisch verständlich, aber juristisch angreifbar ist.Eine Vollversammlung der Rechtsgelehrten beschloss, die Gefangenen in Gesprächen mit Imamen und Juristen zu einer richtigen Interpretation des Islam zu befähigen und von der Gewalt abzubringen. Die meisten von ihnen seien Analphabeten mit starken Glaubensgrundsätzen, viele hätten den Koran auswendig gelernt, ohne ihn richtig interpretieren zu können. Schließlich würden 124 Suren des Koran zum Frieden mit Nichtmuslimen aufrufen, ein Gesetz verbiete das Töten. Nur Menschen, die den Islam aktiv bekämpften, verdienen laut Koran keinen Schutz. Jihad aber bedeute Kampf um das bessere Argument.Welches das ist, bleibt allerdings umstritten. Aus Furcht, die beteiligten Rechtsgelehrten könnten der Kollaboration mit dem Westen bezichtig werden, waren außer Kadi al-Hitar nur drei Juristen zu dem Vorhaben bereit. Ihnen ist zu danken, dass nach den ersten zweimonatigen Gesprächsrunden 36 von 104 Inhaftierten entlassen wurden und man sich um ihre soziale Integration gekümmert hat.Auch al-Hitar hat dabei gelernt. Nachdem er den Motiven und Überlegungen der Extremisten geduldig zugehört hat, ist er sich sicher, wie der Terrorismus bekämpft werden könne: Durch das Austrocknen der verfehlten Gewaltideologie, das juristische Verfolgen von Gesetzesverstößen und das Engagement für einen weltweiten ökonomischen Ausgleich. Zum Abschied äußert Günter Grass den Wunsch, es gäbe auch in den USA eine Kommission, die Präsident Bush ins Gebet nehme, Probleme nicht mit Kriegen zu lösen.Märchen aus zehn und einer Nacht? Wenige Minuten, nachdem Jarallah Omar als Gastredner auf dem Kongress der religiösen Islah-Partei eine leidenschaftliche Rede gegen die im Land verbreitete extreme Armut, Korruption, die Einengung der Demokratie, gegen Gewalt, Waffenkult und Todesstrafe gehalten hat, ist er erschossen worden. Der Herausgeber der englischsprachigen Yemen Times beschwört seine Leser in der Ausgabe vom 12. Januar, die Arbeit des Hingerichteten fortzusetzen: "Es gibt keinen Zweifel, dass das Fehlen von Jarallah Omar das politische Bild des Jemen verändern wird. Wir müssen uns stets daran erinnern, dass die Anstrengungen dieses noblen Mannes jetzt nicht vom Winde verweht werden dürfen."
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