Ein Ort, an dem die Wolken hängen

MEXIKO Mangos und Müll und Idyll im Dorf Ixmolintla

Auf dem Rancho der Familie Hernández in Ixmolintla wird gefeiert, eine dreiköpfige Kapelle spielt Huapango, traditionelle Musik aus Hidalgo, ein Schaf und ein Schwein hat man geschlachtet, und über 70 Familienmitglieder aus ganz Mexiko, einige vom Nachbarhof und andere aus bis zu 3.000 Kilometer entfernten Gegenden sind gekommen. Es wird gefeiert, dass eine weit verstreute Familie vereint ist. Vater und Mutter Hernández leben in Mexiko-Stadt, die sechs Töchter in verschiedenen Provinzen, eine Tochter gar in Europa. Ein solches Fest braucht eine lange Vorbereitung. Die Zubereitung der Hauptspeise - mexikanisches Barbacoa - beginnt gute 30 Stunden, bevor sie aufgetischt werden kann. Sie hat trotz des Namens nicht viel mit dem bekannten Barbecue zu tun. Für Barbacoa wird ein etwa 1,50 Meter tiefes Loch mit einem Meter Durchmesser in das Erdreich gegraben, 24 Stunden vor dem Essen dann der Grund mit einer dicken Schicht glühender Holzkohle ausgelegt, die ein großes Gitterrost bedeckt. Darauf wiederum steht ein 30-Liter-Kessel mit verschiedenen Gemüsesorten, Kräutern, etwas Wasser, es folgt noch ein Rost, auf dem - fein säuberlich zerteilt - das Schaf liegt. Das Ganze wird schließlich mit Magüey-Blättern, einer Art Agave, bedeckt und mit Erdreich zugeschüttet. Gekocht wird 18 Stunden, in denen das Fleisch langsam zart wird, der Saft in den Kessel tropft und so eine pikante Fleischbrühe entsteht. Die Familie Hernández kommt nicht häufig so zahlreich zusammen - einst hatte der Urgroßvater den Hof in Ixmolintla gegründet, doch schon seine Enkelkinder trieb Mitte des 20. Jahrhunderts die Angst vor dem bäuerlichen Elend aus der Gemeinde hinaus in die pulsierende Metropole Mexikos, in die auch heute noch täglich Tausende von Armen strömen, um dort ihr Glück zu suchen.

In einem weißen Meer versunken

Ixmolintla liegt etwa 120 Kilometer nördlich von Pachuca, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Hidalgo, zählt 304 Einwohner, aufgeteilt auf 85 Familien, irgendein Dorf eben wie es Tausende andere in Mexiko gibt. Der Weg nach Ixmolintla führt über eine unbefestigten Straße, mehr eine Geröllpiste durch ein weitläufiges Tal, an dessen Hängen sich in beachtlichen Abständen die Häuser klammern. "Der Abstand ist so groß", erzählt die 38jährige Ökonomin Myrna Hernández, die von ihrem Großvater die Farm übernommen hat, um einer monotonen Buchhaltertätigkeit zu entgehen, "dass ich einmal nach einem Unwetter zwei volle Tage gebraucht habe, um bei allen nachzusehen ob sie den Sturm gut überstanden hatten."

Wer nach Ixmolintla fährt, muss genau wissen wo das Dorf liegt, das Schild an der Landstraße weist nur nach Eloxochitlán, einer etwas größeren Ansammlung von Häusern, die noch einmal zehn Kilometer hinter Ixmolintla liegt. Die Namen der Ortschaften sind alle auf Nahua, doch da niemand mehr in Ixmolintla diese Sprache beherrscht, löst die Frage nach der Bedeutung des Dorfnamens kontroverse Debatten aus. Einige beschwören, es bedeute "der Ort, an dem die Wolken hängen", was angesichts der fast 2.000 Meter hohen Berge die Ixmolintla umgeben nicht unwahrscheinlich klingt. Andere sind überzeugt, die Übersetzung laute "der Ort, an dem der Mais wächst".

Erst Wochen später sollte ich in einer anderen Nahua-sprachigen Region die richtige Umschreibung erfahren: "Der Ort, an dem die Pflanzen sprießen". Ein zutreffender Name. Tal und Hänge sind tiefgrün, das Klima ist angenehm mild. In der Nacht füllt sich das Tal mit Nebel, und am Morgen scheint, als wäre Ixmolintlas in einem weißen Meer versunken. Wenn der Dunst langsam verraucht, schälen sich Orangenhaine, Mandarinen- und Mangobäume und Maisfelder aus dem Tal.

Mit der Hand die Ernte einbringen

Doch die Idylle ist von Armut durchtränkt, die kleinbäuerliche Landwirtschaft dümpelt dahin. Dank NAFTA, dem seit 1994 bestehenden Freihandelsabkommens mit den USA und Kanada, wird der mexikanische Markt mit Billigangeboten der industrialisierten US-Agrarproduktion überschwemmt. Mit Dumping-Preisen können Bauern, die ihren Mais an den Hängen von Ixmolintla anbauen und noch mit der Hand ernten, nicht mithalten. Inzwischen wird das Grundnahrungsmittel, das indianischen Vorfahren als heilig galt, aus dem die Tortillas sowie die Tamales (gefüllte Teigknödel) hergestellt werden, größtenteils importiert. So sind im vergangenen Jahrzehnt auch viele Bewohner Ixmolintlas in die Vereinigten Staaten oder die Industriezonen des mexikanischen Nordens ausgewandert.

Wer bleibt, braucht wie jeder im Dorf Hilfe beim Säen, Pflügen, Ernten, Lagern - so werden "Arbeitstage getauscht": Du arbeitest für mich und ich arbeite für dich, so die Regel, die allerdings nicht für Don Manuel gilt, der zwei Ochsen und einen Pflug besitzt. Wenn gepflügt werden muss, dann bekommt Don Manuel für seine Arbeit und seine Ochsen 120 bis 150 Peso am Tag, umgerechnet 25 bis 30 Mark. So verdient wenigstens eine Familie genug, um nebenbei den Gemeinschaftsladen - den Conasupo - zu unterhalten. Derartige Läden finden sich in vielen Dörfern Mexikos. Kleine selbstverwaltete Geschäfte, die einen Grundbedarf zu wohlfeilen Preisen verkaufen können, staatlich subventionierten Preisen größtenteils. Im Conasupo von Ixmolintla gibt es Bohnen, Reis, Mehl, Thunfischdosen, Toilettenpapier, Waschmittel, Zahnpasta und einiges mehr, auch ein Telefon steht dort, das einzige in Ixmolintla. Der Laden entstand auf Initiative von Myrna Herndandez, die seit 1999 auch "Delegierte" Ixmolintlas gegenüber den Behörden der Kreishauptstadt Molango ist.

Das System beansprucht das Dorf so wie es ihm nützt: Ein Gebäude für den Laden musste gebaut werden, für seine Arbeit im Conasupo bekommt Don Manuel fünf Prozent der Einnahmen, das sind etwa 35 Peso täglich (umgerechnet sieben Mark) und Myrna reist nach wie vor als Delegierte von Ixmolintla auf Regionalversammlungen der Conasupo, um dort gemeinsam mit den anderen Conasupo-Delegierten die Geschäftspolitik zu besprechen.

Myrna ist in Ixmolintla hoch geschätzt, ihr Engagement für das Dorf, in dem sich wie gesagt schon ihr Urgroßvater niederließ und 1920 sein Haus baute, hat einiges bewegt. So ist heute das Wasser von Ixmolintla wieder trinkbar, was jahrelang nicht der Fall war. Aurelio Silva, der ehemalige Bürgermeister der Kreishauptstadt Molango, hatte einfach an der Quelle des Trinkwassers für Ixmolintla eine illegale Müllkippe eingerichtet, die das Wasser des Dorfes vergiftete. Aurelio Silva, dessen Familienname unzählige Geschäfte und Lokale in Molango ziert, kassierte die Gelder für die Müllbeseitigung und ließ den Abfall illegal bei Ixmolintla entladen, zwei bis drei Lastwagen täglich. Ixmolintla stand dieser Schikane anfangs völlig ohnmächtig gegenüber. Als jedoch bekannt wurde, dass der damalige Gouverneur von Hidalgo, Miguelangel Nuñez Soto, im April nach Molango kommen sollte, reifte ein Plan, und Myrna war als erste unterwegs damit.

Mit Macheten bewaffnet hingehen

"Ursprünglich hatte ich gar nicht erwartet, dass noch jemand mitmacht, denn so etwas hatte es in Molango noch nie gegeben", erinnert sie sich, "als ich dann aber in der Gemeindeversammlung vorschlug, mit einem solchen Protest gegen die Deponie Alarm zu schlagen, meldeten sich gleich 40, die von der Idee, die Müllgrube zu blockieren, begeistert waren. Und das wenige Tage vor dem Besuch des Gouverneurs". Sichtlich bewegt erzählt Myrna vom Elan ihrer Leute, der da augenblicklich zu spüren war: "72 Stunden bevor Gouverneur Soto nach Molango kam, riegelten wir die Zufahrtsstraße zur Deponie tatsächlich ab. Zuvor hatte die Dorfversammlung beschlossen, alle Männer sollten mit Macheten bewaffnet hingehen, um Eindruck zu machen. Die Frauen wollten Kanister mit schmutzigem Wasser mitnehmen und behaupten, es sei Diesel, und sie würden die Mülltransporter anzünden, falls die eine Durchfahrt erzwingen sollten."

Schließlich bekamen die Bewohner Ixmolintlas sogar Unterstützung von Ortsfremden, einem Stoffverkäufer etwa, der ihnen das Material für Transparente schenkte, als er von der geplanten Aktion erfuhr. Über 40 Personen aus Ixmolintla standen dann am "Tage X" Gouverneur Soto in Molango tatsächlich gegenüber und entrollten ihre Spruchbänder. Das Gast schien überrascht, die Presse weniger, sie stürzte sich auf die Protestierer, für Aufsehen war jedenfalls gesorgt. Der persönliche Sekretär des Gouverneurs sorgte denn auch gleich für ein Treffen der Protestierer mit Soto. Und der versprach, der Sache nachzugehen.

Tatsächlich wurde eine Kommission des Wasseramtes nach Molango entsandt, um die Vorwürfe zu überprüfen. Bürgermeister Silva war vorbereitet, fing die Kommission in Molango ab und präsentierte 40 bezahlte Einwohner der Stadt, die behaupteten, aus Ixmolintla zu stammen und sich keineswegs durch die Müllkippe gestört zu fühlen. Ein glücklicher Zufall führte auch Doktor Paula, die Ärztin Ixmolintlas, an diesem Tag ins Rathaus, und als der Bürgermeister versuchte, sie ebenfalls zu korrumpieren, erklärte sie der Kommission: "Ich weiß zwar nicht, was hier geschehen ist, aber außer mir kommt niemand aus Ixmolintla." Der Schwindel flog auf, der Bürgermeister zahlte eine saftige Strafe, die illegale Halde wuchs nicht mehr.

Myrna ist glücklich, nicht nur wegen ihres Dorfes. Im Sommer bekommt sie ihr erstes Kind, und sie will, dass es gesund aufwächst. Wer der Vater ist, hat sie niemandem gesagt, vor 30 Jahren hätte dies einen Skandal und die Vertreibung aus dem Dorf bedeutet. Doch mittlerweile hat sich auch Ixmolinlta verändert und niemanden stört es: Myrna soll überzeugt werden, das Dorf wieder als "Delegierte" in der Kreishauptstadt zu vertreten.

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