Ich wohne und arbeite in Tbilissi, in der Hauptstadt Georgiens, wo im Sommer unerträgliche Hitze herrscht. Meine finanzielle Lage erlaubte es mir nicht, mich mit meiner Lebenspartnerin und unseren drei Kindern inmitten der schönen Bergwelt in Westgeorgien oder am Schwarzen Meer zu erholen, deswegen blieben wir in Tbilissi. Außerdem musste ich noch meine Arbeit an den nächsten zwei Bänden der Editionsreihe Österreichische Lyrik des 20. Jahrhunderts zu Ende bringen. Dieses Projekt habe ich vor drei Jahren begründet. Es ist geplant, die wichtigsten österreichischen Dichter ins Georgische zu übersetzen und in 30 Bänden herauszugeben. Die ersten vier Bücher sind schon erschienen und in meinem Computer warten noch weitere vier druckfertige Bände dieser Reihe, außerdem hunderte von Materialien, die ich für das Projekt seit vielen Jahren in österreichischen Bibliotheken gesammelt, übersetzt, geschrieben, notiert, kopiert habe. Und plötzlich schien die reale Gefahr auf, dass das alles vernichtet werden könnte.
Gegenüber dieser Realität war ich ohnmächtig. Wie hätte ich meine Familie gegen die drohenden Bomben verteidigen können? Wohin hätten wir flüchten sollen? Und was würde mit dem von mir übersetzten Lyrikbändchen der österreichischen und Georgien eng verbundenen Autorin Marianne Gruber geschehen, das ich mit großer Begeisterung übersetzt habe und das schon in einer Woche in Tbilissi erscheinen sollte? In diesen Tagen war ich nur daran interessiert, die Daten meines Projektes, insgesamt vier Gigabyte, möglichst schnell im Internet zu speichern, das heißt in der virtuellen Welt zu verstecken. Schon dieses Bild verstört mich und scheint mir wie ein Zeichen: Wie sich ein Schriftsteller im 21. Jahrhundert vor der realen Welt verteidigen und in die virtuelle Welt wechseln muss, um Literatur zu retten, die eben für diese reale Welt geschaffen, übersetzt und zusammengetragen wurde; die eben den Dialog zwischen verschiedenen Menschen vermitteln soll, die dichterisch und kulturell aktiv sind.
Gleich nachdem die Gefahr, in Tbilissi bombardiert zu werden, gegenstandslos geworden war, setzte ich die Arbeit an dem Projekt wie ein Verrückter fort. Das war ein seelischer Zustand, den die Ärzte als "posttraumatischen Stress" bezeichnen. Bis heute bleibe ich - wie alle georgischen Intellektuellen - unruhig, denn es ist sichtbar, dass alles, was zurzeit in Georgien läuft, über viele Fäden mit der Weltpolitik verbunden ist. Georgien ist ein winziger und doch wichtiger Teil dieser politischen und kulturellen Kette.
Wie hat die Mehrheit der Bevölkerung auf die Militäraktionen reagiert? Ganz unterschiedlich. Die Reaktion der USA und des Westens hat die allgemeine Stimmung eindeutig positiv beeinflusst. Die Georgier hatten das Gefühl, nicht allein gelassen zu werden. Die Leute, die Russland als wichtigstes Partnerland betrachteten, das Georgien und den ganzen Kaukasus vor der USA zu verteidigen hat, waren natürlich sehr enttäuscht. Selbst bei ihnen wuchsen die Zweifel, dass die Russen die Rechte der Zivilbevölkerung respektierten.
Trotz alledem sendet das georgische Volk keine Botschaft der Verzweiflung an die Welt. Wir Georgier verstehen und respektieren die kulturelle Sprache der modernen Welt. Und da liegt für mich das Problem Russlands. Dieses Land pflegt ein veraltetes Beziehungsmodell. Russland kommuniziert mit der Welt nicht nur in einer veralteten, sondern gleichsam in einer ausgestorbenen Sprache: Verglichen mit den ausgestorbenen Sprachen, die ihre historisch-kulturelle und philologische Bedeutung niemals verlieren werden, hat die russische politisch-kulturelle Sprache ihre Bedeutung aber schon lange verloren. Sie ist nicht nur unbrauchbar und unverständlich, sondern auch gefährlich für die kulturelle Welt, denn diese Sprache basiert nicht auf der Philosophie der Partnerschaft mit anderen Ländern. Wo bleiben in dieser Situation die Stimmen der russischen Intellektuellen gegen die überzogenen Reaktionen ihrer Regierung? Nur wenn es den russischen Schriftstellern, Künstlern, Philosophen und Wissenschaftlern gelingt, sich von der Tradition des Chauvinismus zu trennen, wird die restliche Welt ihre Stimme hören und akzeptieren.
Was die aktuelle Krise anbetrifft, muss man vielleicht an die Vorgeschichte des aktuellen Konflikts erinnern. Schon vor 200 Jahren hatte Russland damit begonnen, den Kaukasus zu erobern. Wir Georgier waren in unserer Geschichte immer auf der Suche nach Partnern und Freunden, die uns behilflich sein könnten, unsere Identität zu verteidigen. Deswegen hat Georgien im Jahr 1783 einen Freundschaftspakt mit Russland geschlossen, den Russland aber bald einseitig aufgekündigt hat. Im Jahr 1801 hat es das Königtum in Georgien abgeschafft. Der Prozess der Annexion Georgiens dauerte lange, und Russland hat ihn im Jahr 1864 mit der Annexion des Fürstentums Abchasien beendet. Danach hat Russland immer das Ziel verfolgt, sowohl Georgien als auch den ganzen Kaukasus zu russifizieren. Was immer man den Kaukasus-Länder vorwerfen kann - darf man ihnen verübeln, dass sie vor diesem Hintergrund allergisch gegen den Imperiumskomplex der Russen geworden sind? Sie haben zu oft die Erfahrung gemacht, dass Russland die altrömische Strategie benutzt, die Einheit der umgebenden Völker zu spalten und sie gegen einander zu treiben. Von diesem Komplex muss sich das Land befreien.
Ich kümmere mich wenig um Politik. Schon vor über 15 Jahren habe ich meinem Buch Poesie und Politik die Ansicht formuliert, dass sich diese zwei wesentlichen menschlichen Äußerungsformen eigentlich fremd gegenüberstehen. Trotzdem beeinflussen sie sich sehr stark. Aus historischer Sicht sind die Beziehung zwischen Russland und Georgien sehr vielschichtig. Diese Länder verbindet nicht nur Feindschaft, sondern auch eine lange Geschichte enger politischer und kultureller Kontakte. Gleichzeitig fühlte sich Georgien beleidigt, wurde unser Land unbegreiflicherweise doch immer wieder bestraft für seine Treue zu Russland. Und leider hat Russland oft genug versucht, einerseits die kulturellen Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationen des Kaukasus zu behindern und andererseits den kulturellen Dialog zwischen dem Kaukasus und dem Westen zu stören.
Damit ich nicht einseitig wirke: Ich bin in meinem Land als unaufhörlicher Kritiker des georgischen Lebensstiles und einer besonderen Mentalität bekannt, die alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens in Georgien erobert hat. Dieser Lebensstil ist emotions- und konsumgesteuert. Er richtet sich nach wechselnden Moden, ist hedonistisch und wird nicht, wie die Philosophen sagen würden, von "geistigen" Interessen geleitet. Natürlich gibt es das bei vielen anderen Nationen auch. Aber in Georgien ist dieses Manko sehr stark ausgeprägt. Allerdings wurzelten diese Fehlentwicklungen auch in der tragischen Geschichte unseres Landes. Selten gab es in der georgischen Geschichte eine Zeit der Ruhe, unsere Identität mussten wir immer gegen mächtigere Länder oder Imperien verteidigen.
Was Russland und Europa von einander unterscheidet, ist, dass Russland immer noch von seiner sowjetischen Vergangenheit geprägt ist. Der Westen hat sich in einem langen, widersprüchlichen Lernprozess von seiner kolonialistischen Praxis einigermaßen verabschiedet, auch wenn sie immer noch hier und da wieder aufscheint. Nicht unbedingt aus humanistischen, sondern aus rein pragmatischen Gründen: Die Dialektik der Opposition Herrscher-Knecht schädigt nicht zuletzt eben auch die Interessen des Herrschers. Die Philosophen kennen den genialen Paragraphen aus Hegels Werk Die Phänomenologie des Geistes, aus dem man diese Moral herauslesen kann. Vielleicht sollte sich Russland auch auf diesen Weg begeben.
Georgien hat einen großen Lernbedarf. Das Bestreben, sich der Welt als ein Land zu zeigen, in dem eben die Kultur den Ton angibt, ist nicht sehr weit entwickelt. Gering sind die Anstrengungen, sich nicht nur als ein Land zu präsentieren, das sich in der großen kulturellen Vergangenheit sonnt, sondern in dem auch die zeitgenössische georgische Kultur geschätzt und unterstützt wird. Denn die Realität sieht so aus: Die Kultur wird heute in Georgien als Ergänzung zu Politik und Wirtschaft betrachtet. Ich persönlich werde mich nur dann glücklich fühlen, wenn es Georgien gelingt, sich an den europäischen Diskursen der Gegenwart auszurichten und nicht einzig an unserer kulturellen Vergangenheit oder der geopolitischen Gegenwart. Vor allem dürfen wir die Funktion eines russischen Satelliten nicht gegen die eines geopolitischen Faustpfands des Westens eintauschen. Meine Vorstellung von einem Georgien der Zukunft sieht anders aus: Georgien muss sich der Weltkultur öffnen und nützlich für sie werden. Dazu ist es aber notwendig, die Kultur zu stärken und ihre Grundlagen zu rationalisieren: die Funktion, die in den großen und reichen Ländern Mäzene und private Stiftungen haben, muss in Georgien der Staat übernehmen. Nur so lässt sich die Kultur bei uns strukturell und dauerhaft stärken.
Alles braucht seine Zeit. Ich bin fest davon überzeugt, dass die europäischen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht für immer nur Ideale bleiben werden. Es wird der Menschheit einmal gelingen, diese Ideale erst in ihrem Herzen und dann in der Welt zu verwirklichen. In Georgien und in Russland. Einen Vorteil hat der posttraumatische Stress für mich selbst letzten Endes doch gehabt. Denn in den schrecklichen Augusttagen in Tbilissi ist es mir nun endgültig gelungen, auf die Grundsatzfrage "Wozu Dichtung?" meine eigene Antwort zu finden. Diese Antwort ist einfach: damit die reale innerliche Welt, auf der die reale äußere Welt basiert, nicht aufhört, sich zu drehen; damit der Wille zur Dichtung und das heißt: der Wille zum Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen, für immer fortgesetzt werden kann.
Dato Barbakadse, geboren 1966 in Tbilissi, ist georgischer Schriftsteller, Essayist und Übersetzer. Seit 2007 ist er Mitglied der Europäischen Autorenvereinigung Die Kogge. Von ihm sind über 20 Bücher erschienen. Seine Texte wurden teilweise auch ins Deutsche übersetzt. Zuletzt brachte 2007 der Ludwigsburger Pop-Verlag seinen Gedichtband Das Dreieck der Kraniche heraus.
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