Reality-Soaps, Talkshow-Exhibitionismus und Big Brother machen es überdeutlich: Nicht, wieviel Privates öffentlich gemacht wird, gar gemacht werden muss, ist das Problem, sondern wieviel Privates die Öffentlichkeit denn anzuhören überhaupt bereit ist. Konkurrenz um Aufmerksamkeit, die Währung der Mediengesellschaft, zwingt, so scheint es, zu immer außergewöhnlicheren Geschichten. Und die sind dann vor allem Opfergeschichten. Während Erfolg nämlich, von dem zu erzählen ähnlich lohnend wäre, sich schon in der Öffentlichkeit abspielen muss, um als solcher überhaupt gelten zu können, kann Opfer jeder sein: Opfer politischer Ereignisse, Opfer von Eltern oder Verwandten, Opfer von Kollegen, Opfer dunkler Mächte,
Arbeit am Trauma
KEIN HOLOCAUST-KITSCH Eine kritische Nachbetrachtung zum Fall Binjamin Wilkomirski
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te, Opfer einer Hautfarbe, eines Geschlechts, eines Glaubens, einer Krankheit.Dass dieses zwischen Selbstfindung und -erfindung angesiedelte Erzählen der eigenen Vergangenheit als Martyrium erst sekundär mit dem tatsächlich Erlebten, primär aber mit Erwartungen der Öffentlichkeit zu tun hat, ist seit den Debatten um den (massenhaft) wiedererinnerten Missbrauch in früher und frühester Kindheit bekannt.Doch gibt es Grenzen, wie man am Fall Wilkomirski ablesen kann, der vor einiger Zeit die Gemüter erregt hat. Seine Genese und Diskussion liegt jetzt mehr oder weniger abgeschlossen in Buchform vor. Der Schweizer Historiker Stefan Mächler hatte im Auftrag der Zürcher "Literarischen Agentur Liepman", die Wilkomirskis Kindheitserinnerungen weltweit an renommierte Verlage vermittelte, den "Authentizitätsanspruch des Buches zu überprüfen." Das Ergebnis ist ein ausführlicher, eher sozialpsychologischer als historischer Bericht, der in seinen Deutungen allerdings weit übers Ziel hinausschießt. Die Geschichte, wie sie unter dem Titel Bruchstücke tatsächlich vorgelegen hat, lässt sich in Mächlers Darstellung kaum noch erahnen.Da hatte ein Schweizer seine Kindheit im Holocaust rekonstruiert, hatte seinen jüdisch-osteuropäischen Namen wiedergefunden und die Erinnerungen an seine fürchterlichen Erlebnisse 1995 beim zu Suhrkamp gehörenden Jüdischen Verlag publiziert. In der Folge trat er überzeugend vor Opfergruppen und Schulklassen, vor Wissenschaftlern und in Gedenkstätten auf. Seine Lebensgeschichte nahm den Charakter eines Dokuments spätestens an, als er sie im Holocaust Memorial Museum (Washington) und für Spielbergs Shoah Visual History Foundation aufzeichnen ließ. Das Buch wurde mehrfach, hauptsächlich von jüdischen Organisationen, ausgezeichnet, in neun Sprachen übersetzt und war allem Anschein nach ein großer Erfolg.So weit, so gut: Eine Geschichte voll später Gerechtigkeit. Das größte anzunehmende Opfer, das Kind, das Auschwitz und Majdanek überlebte, mehrfach traumatisiert durch diese Erlebnisse und durch das von Adoptiveltern, Lehrern, Mitschülern, kurz der Schweizer Gesellschaft verhängte Rede- und Erinnerungsverbot, bricht sein Schweigen und legt Zeugnis ab vom größten Verbrechen dieses Jahrhunderts.Wenn man seiner Erzählung folgt, wurde Binjamin Wilkomirski Anfang 1939 geboren. Seine frühesten Erinnerungen sind in Riga lokalisiert. Dort erlebt er 1941 bei der Liquidierung des großen Ghettos den Tod eines Mannes, "vielleicht mein Vater", flüchtet vermutlich nach Polen und wird dort mit seinen Brüdern, "hatte ich vier Brüder - oder fünf", in einem Bauernhaus versteckt. 1943 verschleppt man ihn nach Majdanek. Er trifft seine sterbende Mutter ein letztes Mal und wird Ende 1944 vermutlich nach Auschwitz transportiert. Nach der Befreiung des Lagers bringt ihn eine Frau, die ihn als den "kleinen Wilkomirski" erkennt, in ein polnisches Waisenhaus. 1947 kommt Wilkomirski in die Schweiz zu seinen späteren Adoptiveltern - den Dössekkers. Das Kind bekommt eine neue Identität und muss seine jüdische Vergangenheit vergessen.Diese Zusammenfassung verschweigt aber das Wesentliche - es handelt sich gerade nicht um eine chronologische Abfolge von Ereignissen, vielmehr sind es einzelne Szenen - erinnerte Bruchstücke, mit "messerscharfen Konturen, die noch heute kaum ohne Verletzung zu berühren sind." Verletzlichkeit und Verletzungen teilen sich den Lesern durch die eingenommene Kinderperspektive in gnadenloser Direktheit mit. Die hemmungslose, plötzlich einbrechende Gewalt trifft mit einer Härte, der man sich schwer entziehen kann: Beim Spielen mit einer Holzkugel vor ihrer Baracke zum Beispiel bewegen die Kinder einen Aufseher zum Mitspielen. Dieser nimmt lächelnd die Kugel und schlägt einem Kind damit den Schädel ein.Das Unverständnis, mit dem in Schule und Elternhaus auf das Verhalten des Kindes und jungen Erwachsenen reagiert wird, ist Anlass neuerlicher Traumatisierung: In der Schule soll ein Bild von Wilhelm Tell erklärt werden. Binjamin identifiziert einen SS-Mann, der auf ein Kind schießt, um an den Apfel zu kommen. Als die Lehrerin ihm verbietet zu reden, wird sie in seiner Vorstellung zur "Blockowa", zur KZ-Aufseherin. "Das gute Leben ist nur eine Falle. Das Lager ist noch da!", heißt es am Ende des Buches über die Schweiz.Der Leser indes ist bei alledem nicht nur neutraler Zuschauer: Er hilft durch seine Bereitschaft zuzuhören, das Trauma zu überwinden, zu bewältigen. So ist nicht nur diese Opfergeschichte noch etwas mehr als bloß interessant. Es ist die Genese eines Erfolgs an dem der Leser nicht nur teil-, sondern Anteil hat.Zum Fall wurde Wilkomirski, als Daniel Ganzfried das seiner Ansicht nach schlechte, sentimentale und gewaltpornographische Buch als Fälschung enttarnte. Ganzfried hatte im August 1998 in einem mittlerweile preisgekrönten Artikel in der Schweizer Weltwoche behauptet, Bruno Dössekker, so der bürgerliche Name Wilkomirskis, habe einen gut dokumentierten Lebenslauf in der Schweiz, mit dem die geschilderten Erlebnisse nicht vereinbar seien. Konzentrationslager kenne er "nur als Tourist." Das Buch aber sei trotzdem ein "überwältigender Erfolg" gewesen, weil beim Thema Holocaust "Mitleid das Denken ersetze."Mit zweijährigem Abstand kann man jetzt sagen: Der Mann hatte recht, was die Identität des Autors Wilkomirski/Dössekker angeht. Über das Buch und seinen vermeintlichen Erfolg, hat Ganzfried sich und/oder seine Leser aber getäuscht. Denn ein "Holocaust-Bestseller", gar der "größte Schweizer Bucherfolg seit Heidi" (seit 1880 also), wie man in amerikanischen Zeitungen lesen konnte, war das Buch mitnichten. Die Erfolgsstory von Bruchstücke - mehr Story als Erfolg - begann erst mit Ganzfrieds Artikel. Weitgehend unbeachtet waren vor Beginn des Skandals vorsichtig geschätzt 9000 Exemplare der deutschsprachigen Ausgabe verkauft - bis zur Rücknahme im November 1999 ganze 13000.Erfolgreich war vor allem Ganzfried. In der Feuilletondebatte, die sein Artikel auslöste, wurden die erhobenen Anschuldigungen gegen Autor, Buch und Buchkritik mehr oder weniger stereotyp reproduziert. Darüber hinaus war der Fall willkommener Anlass, sagen zu können, was sonst, angesichts der ritualisierten und tabuisierten Formen, in denen das Gedenken, mithin auch das Reden über den Holocaust hierzulande betrieben wird, nicht möglich ist. Mit der blinden Betroffenheit müsse jetzt nämlich Schluss sein. Bücher über den Holocaust haben nicht Mitleid zu erregen, sondern Wissen zu transportieren. Es handele sich bei Bruchstücke um ein schlechtes Buch, was zwar erst jetzt offensichtlich sei, aber auch vorher schon hätte auffallen sollen. Holocaust-Kitsch und Shoah-Business dürfe und müsse auch so genannt werden - auch von Nicht-Juden, auch von Deutschen.Wenn auch hinter vorgehaltenen Anführungsstrichen bietet die Debatte um Norman Finkelsteins Holocaust-Industry dazu neuerlich Anlass. In den USA weitgehend unbeachtet, wird der Vorwurf, US-amerikanische Institutionen hätten den Holocaust instrumentalisiert, um auf die US-amerikanische Außenpolitik einzuwirken und sich auf Kosten der Opfer zu bereichern, bereitwillig aufgenommen und auf den Umgang mit dem Holocaust hierzulande angewendet. Kaum überraschen kann es, dass Bruchstücke für Finkelstein das "archetypical Holocaust-memoir" ist - schlecht geschrieben und erfolgreich. Angesichts der tatsächlichen Zahlen ließe sich Holocaust-Industry dann allerdings auch als Subventionsaufruf verstehen.Kitsch und Kommerz sind also die Vorwürfe an Bruchstücke: Weil von Kommerz im großen Stil keine Rede sein kann, bliebe der Kitsch - auch das lässt sich so einfach nicht halten. Zeugten doch Äußerungen von professionellen Lesern diesseits und jenseits des Feuilletons von einem durchaus reflektierten Umgang. Teilweise wurde sogar davon ausgegangen, dass es sich bei dem Text um Fiktion, aber um ein gutes Buch handelt - beispielhaft: Lawrence L. Langer, Nestor der Forschungen zu literarischen Darstellungen des Holocausts. Auch die ersten Rezensionen hielten die faktische Glaubwürdigkeit zumindest für fraglich, kamen aber meist überein, dass subjektive Wahrheit und literarische Qualität die Zweifel überwiegen würden. Und jetzt dieses einhellig gegenteilige Urteil? Angesichts seiner Wirkung scheint demgegenüber zumindest Nachdenklichkeit angebracht: Denn nur ein schlechtes Buch kann das Klischee erfüllen, dass beim Thema Holocaust kritisches Bewusstsein religiöser Ergriffenheit weicht. Und nur ein schlechtes Buch gestattet die These denkfauler sentimentaler Leser und Kritiker beziehungsweise einer solchen Öffentlichkeit. Es mag nun, angesichts der Walser-Bubis-Debatte, beruhigen oder nicht: Im Verhältnis zum Holocaust ist von Normalisierung oder Rationalisierung keine Spur zu entdecken.Das Buch, über dessen Qualität jetzt noch zu urteilen schwerfällt, hat, nach allem was man weiß, Menschen bewegt. Authentische Opfer erkannten in Wilkomirski jemanden, der ihrem Erleben eine Stimme gibt. Diese Wirkung bleibt. Sentimentales Mitleid ist nicht die richtige Haltung gegenüber dem Holocaust und seinen Opfern. Es dem konkret Einzelnen vorzuenthalten kann aber nicht die Alternative sein.Während man im deutschsprachigen Raum offensichtlich davon überzeugt ist, dass der Holocaust als ganzer in Frage steht, nur weil jemand eine falsche Geschichte über sich erzählt, ist vor allem in den USA ein pragmatischer Umgang mit Wilkomirski zu beobachten. So teilt Wilkomirskis Verleger mit, dass er Bruchstücke als Fiktion sofort wieder veröffentlichen würde. "Maybe it's not true - then he's a better writer." Was eine Kritikerin der New York Times feststellte, hat sich in jedem Falle bewahrheitet: "His book is about more than the Holocaust; it's about the struggle for memory." Als solches ist es in jedem Falle weiterhin lesbar.Für die sich fälschlich an sexuellen Missbrauch Erinnernden hat man eine Krankheit erfunden: das false memory syndrome, das auch an Wilkomirski diagnostiziert wird. Damit werden aus Tätern, die sich eine Wunschidentität zurechtbasteln freilich wiederum Opfer - einer Krankheit, vor allem aber verfehlter Therapiemethoden, die das Entstehen einer solchen falschen Identität fördern. Das Spiel geht in die nächste Runde. Wenn Dössekker akzeptieren würde, dass er nicht Wilkomirski ist - zur Zeit beharrt er auf der Richtigkeit seiner Erinnerungen - könnte die ganze Geschichte, wiederum als Opfergeschichte, neu erzählt werden. In dieser Richtung lässt sich auch eine Mitteilung des Suhrkamp Verlags verstehen: Der Fall ruht, er ist nicht abgeschlossen.Stefan Mächler: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Pendo-Verlag, Zürich 2000, 366 S., 19,90 DMBinjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948. Jüdischer Verlag. Frankfurt a.M. 1995.
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