Enttäuschte Liebe

Judentum In der Debatte um den Gaza-Krieg werden Philosemitismus und Antisemitismus wieder zu Machtinstrumenten. Die wichtigen Fragen bleiben offen
Enttäuschte Liebe

Foto: Carsten Koall / Getty Images

„Wenn man es sich verbietet, bestimmte Menschen oder eine Nation kritisieren zu dürfen, gewinnt man ein unfreies Verhältnis zu ihnen, man wickelt sie gewissermaßen in Watte“, schrieb der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Tugendhat im Jahr 2010. Wer Juden, nur weil sie Juden seien, für schlecht halte, sei ein Antisemit. Wer Juden, nur weil sie Juden seien, für gut halte, das Gegenteil: ein Philosemit.

Aus der Geschichte der beiden Ismen kann man sicher schlussfolgern: Philosemitismus hat seinen Grund im Antisemitismus. Er will auf eine maximale Distanz zum Antisemitismus gehen – und landet stets bei ihm. Wie aber ist das heute? Wie verhält sich der Philosemitismus zum Antisemitismus und umgekehrt? Was haben wir aus der Debatte der vergangenen vier Wochen gelernt? Und mehr noch, was bedeutet sie für das deutsch-jüdische Miteinander der Zukunft?

Es ist in diesen Tagen viel über eine Kontinuität antisemitischer Ansichten zu lesen gewesen: „Es ist ein bleibendes Phänomen und kein vorübergehendes Ereignis“, so der Historiker Raphael Gross in der FAZ. „Hier ist überhaupt nichts neu. Seit 250 Jahren begleitet uns der moderne Antisemitismus“, sagte der Antisemitismusforscher Detlev Claussen in einem Freitag-Interview. Ein Schnitt scheint jedoch gegeben zu sein: Das absolut Böse, der Nationalsozialismus oder ein anderer tödlicher -Ismus, von dem alle Jüdinnen und Juden gebrandmarkt würden, ist nicht mehr da.

Ein medialer Antisemitismus

Gleichwohl haben wir es aktuell mit einem globalen, medialen Antisemitismus zu tun. Die Demonstranten in Europa schlagen nicht wie zu Adorno/Horkheimers Zeiten im nationalsozialistisch okkupierten Europa den realen, sondern den medialen Juden ans Kreuz. Zum Beispiel den israelischen Premier Benjamin Netanyahu, der mit allen seit dem Mittelalter denkbaren antisemitisch konnotierten Eigenschaften versehen wurde. Netanyahu, der zionistische Teufel. Oder sie greifen die, immer bewachten, deutschen Synagogen mit ihren „Russen“ stellvertretend für Israel an. So kürzlich in Wuppertal, wo Molotowcocktails flogen und „Free Palestine“ geschrien wurde.

Die verbale Gewalt der vergangenen Wochen war in der Tat brutal und grenzenlos grob: „Jude, Jude, feiges Schwein – komm heraus und kämpf allein!“ Dieser Slogan machte die Runde und anschließend Karriere in der Presse. Die wenigsten Westeuropäer konnten sich bis vor kurzem vorstellen, dass so etwas überhaupt noch öffentlich artikulierbar ist. Deswegen fragte sich auch kaum jemand: Gegen wen und wie soll „der Jude“ denn allein kämpfen? Und warum ist „er“ angeblich sonst nicht allein, wo sind „seine“ Komplizen?

Das Dasein der Juden kompromittiere die bestehende Allgemeinheit durch mangelnde Anpassung, hieß es einst in der Dialektik der Aufklärung. Im Moment wäre dieser klassische Satz in Deutschland etwas irrelevant: Fehlende Anpassung kann man der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands und ihren Repräsentanten nicht vorwerfen. Man trifft sich systematisch mit den Regierenden, ist bei den Gedenkveranstaltungen zum 9. November oder 27. Januar anwesend. Wenn später darüber in den Zeitungen berichtet wird, herrscht stets der gleiche Tenor: Deutschland hat verstanden und aus seiner Geschichte gelernt.

Widersprüche aushalten und ertragen

Aber nun sehen wir, das ist nicht wahr. Im Gegenteil, die real existierende deutsche Gesellschaft unterscheidet sich signifikant von ihren politischen und medialen Vertretern. Die müssen oft qua Amt so agieren. Diese Differenz deutlich vor Augen führend, sprach Dieter Graumann, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, nun von „der schlimmsten Zeit“ für die Juden „seit der Nazi-Ära“.

Möglicherweise täuscht er sich: Denn auch die exorbitante Leere, die sich um Juden, die nach dem Holocaust in Deutschland blieben, ausgebreitet hatte, war kaum erträglich. Auch lässt sie sich nur schwer in eine Relation zum Heute bringen. Doch was Dieter Graumann da zum Ausdruck brachte, war vor allem eines: enttäuschte Liebe. Und die Einsicht: Auf einer dauerhaften Basis völligen Einklangs lässt sich eine deutsch-jüdische Gemeinschaft nicht bauen. Sie muss Widersprüche aussprechen, hören und ertragen können. Folgt auf den „primären Liebesakt“, so Helmuth Pressler in seiner klassischen Analyse der Gemeinschaft, nicht die Liebe, die auch dann verzeiht, wenn sie nicht versteht, ist die Gemeinschaft passé. Offenbar aber ist genau das in den letzten Jahrzehnten passiert, denn nur so kann diese schnelle Änderung der Position des Zentralrats der Juden erklärt werden: Wurde eben noch ein neues selbstbewusstes Judentum in Deutschland deklariert, sieht man sich nun wieder als eine extrem bedrohte und verunsicherte Minderheit.

Die nicht unumstrittenen philosemitischen Konstanten der Bundesrepublik hingegen sind bekannt: Eine Bekenntnis zur Schuld Deutschlands und der Existenz Israels, eine angestrebte Versöhnung mit dem „jüdischen Volk“ als wesentlicher Bestandteil der Westorientierung seit Adenauer, die Wiedergutmachungspolitik.

Er sei „glücklich“, weil er „Juden lieben darf“, sagte Axel Springer einmal. Er hat auf dieser „Liebe“ und auf einer beispiellosen Israelzentriertheit die philosemitische Politik des größten Verlagshaus Europas aufgebaut, sie hält bis heute an. Als Dieter Graumann während der Entführung der drei israelischen Siedlerkinder in der Bild „bringt unsere Jungs heim“ schrieb, konnte er den Eindruck gewinnen, die Gemeinschaft der Bild-Leser sei tatsächlich bereit, die drei leider später tot aufgefundenen Israelis für „unsere“ Jungs zu halten. Doch das sind sie nicht und werden sie auch weiterhin nicht sein – zumal die unter tragischen Umständen und viel zu früh gestorbenen Jungs Gilad, Naftali und Eyal die ihrer Familien, ihrer Freunde – und ja, ihres Landes – Israel, gewesen sind. Nicht „unsere“, auch wenn die globale Welt jede menschliche Tragödie zunehmend zu einer allgemeinen Tragödie machen will, soll.

Ein globaler Nahost-Konflikt

Dennoch, genau dieses Mediale und das Medienpolitische ist heute die wahre Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, sind wir doch als Nutzer der sozialen Netzwerke nonstop in ein großes mediales Ganzes integriert. Antisemitismus und Philosemitismus sind dort scharf voneinander getrennt; das Bannen und Entfreunden ein wirksames, auch politisches Instrument. Früher hieß es: Ein Philosemit ist ein Antisemit, der Juden liebt. Das implizierte eine Nähe. Heute trennen die beiden Gruppen, (wobei ein Antisemit sich nie als ein solcher bezeichnen lassen würde), die unüberwindbaren Facebook- oder Twitter-Wände. Nur in den Talkshows treffen beide ab und zu aufeinander, auch wenn sich der Antisemit dort freilich nicht als ein solcher bezeichnen lassen würde.

In all dem bleiben der Anti- als auch der Philosemitismus Machtinstrumente. Es ist aus der Perspektive der Hamas sinnvoll, die Generationen junger Einwanderer via Satellitenantennen mit den schlichtesten antijüdischen Slogans zu versehen, damit diese später auf den Straßen der Großstädte zum Ausdruck gebracht werden können. So wird der Nahost-Konflikt globalisiert und stets heiß gehalten. Die Empörung und die Wut: Auf Israel, auf Antisemiten, auf die Unterstützung bzw. Nicht-Unterstützung Israels und der Juden in Deutschland, wird staatlich subventioniert und durch das inzwischen alt gewordene Medium Fernsehen regelmäßig in diversen Variationen präsentiert. „Kippas verteilen gegen Judenhaß“, war kürzlich ein Vorschlag in einer ZDF-Sendung.

Der Antisemitismus, meinten Adorno und Horkheimer, sei ein eingeschliffenes Schema, gewissermaßen ein Ritual der Zivilisation, und Pogrome seien Ritualmorde der Zivilisation. Man könnte es heute ergänzen: Der Philosemitismus ist ebenso ein Ritual der Nachholocaustzivilisation. Ein Bekennen zum nichtjüdischen Zionismus, ein temporäres solidarisches Tragen einer Kippa, die parteilich und kommunal finanzierten Investitionen in Erinnerungstafeln und Stolpersteine: All das gehört in der Bundesrepublik zum positiv gemeinten philosemitischen Gesamtpaket. In beiden Fällen, dem medial inszenierten und auf den Strassen performten Antisemitismus sowie dem Philosemitismus, wird „die rationale Insel überschwemmt“ (Theodor W. Adorno). Die emotionalen dramatischen und einseitigen Reportagen und Berichte der christlichen Philosemiten aus Israel, sowie linker und rechter Ausflügler zu den Palästinensern als „Opfer der Israelis“, überbieten sich. Die eigene Teilnahme an einer ewigen Zirkulation des Besonderen wird hier feierlich zelebriert, nämlich: Des angeblich Besonderen der Jüdinnen und Juden. Dass es eine solche radikale Besonderheit gibt, sind sich sowohl die Philo- als auch die Antisemiten einig.

Philosemitisches Gesamtpaket

Das mediale Zeitalter hat der konstanten bildlich-emotionalen Welt des Antisemitismus „gut“ getan: Ein mit dem Fotoshop bearbeitetes, extrem bedrohliches „jüdisches“ Messer „zerteilt“ auch auf heutigen Propagandabildern die Körper der Kinder von Gaza. Die deutsche Öffentlichkeit erhebt dagegen die Stimme. Manche sind bereit „wenn es sein soll“, sogar selber zu „den Juden“ zu werden. Dies jedoch kurzfristig und öffentlichkeitswirksam. „Die Juden“, speziell die Israelis, verwandeln sich heute (wie im Übrigen auch die Nazis in ihren imposanten schwarzen Uniformen) in eine absolute Referenz-Gruppe: Für das Gute oder für das Böse. Auch der umkämpfte Donbass, vermelden die ukrainischen Post-Maidan-Politiker, sei unser Gaza, die Separatisten seien unsere „Palästinenser“, Ukraine sei ganz „wie Israel“, zu dem sie auch eine besondere Nähe verspüren; die Amerikaner, meinen einige israelische Politiker, sollen denken, Israel kämpfte auch für die Welt nach 9/11; es sei schmerzhaft zu beobachten, hört man immer wieder hierzulande, dass das, was die Deutschen den Juden angetan haben, die Juden heute den Palästinensern antun würden. All diese Slogans sind bekannt, man könnte sie fast beliebig mehren, nur werden sie heute global.

Der völkische, nationalsozialistische Antisemitismus der Nazis wollte ganz von der Religion absehen. Aktuell bekämpft der Antisemitismus bzw. der Antizionismus, die Religion, „die Macht der orthodoxen Fanatiker in Israel“, während der christliche Philosemitismus die Religion, speziell das Judentum, wesentlich favorisiert und idealisiert. Gleichzeitig verknüpft der antijüdische Islamismus die religiösen und antireligiösen Elemente und erhebt eine politische Religion, nämlich die eigene. Der Islamismus will einen sakralen Kampf gegen „das Böse“ führen, einen Kampf gegen „die Juden“, der, zumindest medial, weltweit statt finden soll.

Die temporären Kippaträger unter den christlichen Politikern sind Anhänger der immer öfter angesprochenen „jüdisch-christlichen Zivilisation“. Diese kollidiert angeblich mit der muslimischen und so werben einige Politiker und ein Teil der Medien für einen Rückfall hinter die Aufklärung, indem sie dem Islam, immerhin eine Religion, die zahlreich unter uns weilt, kein Eintrittsticket nach Europa gewähren wollen, weil er pauschal als eine Gefahr darstelle.

All die hier beschriebenen Spielarten des Philo- und des Antisemitismus haben allerdings mit der Realität der russischen und ukrainischen Juden und Jüdinnen, der Israelis, mit der Realität der Kinder der polnischen Überlebenden und der wenigen deutschen Juden hierzulande sehr wenig zu tun, außer, dass sie sich durch aktuelle Geschehnisse erneut bedroht fühlen und mobilisiert werden. Die Philo- und Antisemiten konstruieren in Deutschland ein neues jüdisches Kollektiv. Ob dieses ihnen das danken wird, bleibt äußerst fraglich.

Im Zeitalter des unendlichen Reproduzierens und des denkbar lakonischen Tweet-Formats der Aussagen verschwindet zunehmend die Fähigkeit zur Anstrengung des Urteils. Besonders dem Philosemitismus hat die mediale Epoche keinen guten Dienst erwiesen: Die Nichtbereitschaft, eigene Erfahrungen zu machen, verwandelt nicht nur die Antisemiten, sondern auch die gut meinenden Philosemiten am Ende in Feinde der Differenz. „Man wird es wohl sagen dürfen“ (auch mit „letzter Tinte“), tönen die Antisemiten. Die Philosemiten erstarren oder empören sich lautstark. Weil sie Juden lieben und nicht verstehen können, wie man sie hassen kann. Beide sind aber wütend auf die Differenz, auf den Widerspruch. Beide verallgemeinern allzu gern.

„Man darf Gut und Schlecht nicht substanzialisieren: nicht Personen oder gar Völker sind an und für sich gut oder schlecht, sondern gut oder schlecht sind ihre Handlungen, und ein und dieselbe Person kann einmal gut und ein anderes Mal schlecht handeln, einmal im Recht und einmal im Unrecht sein.“ Selbstverständlich sind diese Worte des Ernst Tugendhat mit Sicherheit immer noch nicht. Die Gesellschaft muss schauen, dass sie ihren „Judenknacks“ in der Formulierung des Politaktivisten Dieter Kunzelmann, der den Deutschen diesen noch in den späten 60er Jahren durch eine Bombenexplosion im jüdischen Gemeindehaus Berlin austreiben wollte, ablegt. Und dass dieses Ablegen nicht in einer totalen Geschichts- und Gegenwartsvergessenheit landet, sondern dem kritischen und selbstkritischen Denken der Citoyens einen Platz einräumt. Der Antisemitismus jedenfalls steht diesen Prozessen massiv im Weg. Der Philosemitismus ist auf diesem Weg aber auch nicht hilfreich.

Dmitrij Belkin ist Historiker und Referent beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk – Jüdische Begabtenförderung in Berlin.

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Geschrieben von

Dmitrij Belkin

Historiker, Publizist, Kurator. Als Referent bei ELES - Jüdische Begabtenförderung tätig

Dmitrij Belkin

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