Vorbei sind die Zeiten, in denen Touristen schon von Weitem zweifelsfrei anhand von Stadtplan und dickem Reiseführer auszumachen waren. Heute braucht der moderne Reisende nicht mehr als ein gut ausgestattetes Mobiltelefon mit Kamera, GPS-Funktion, Lagesensor – etwa Googles G1 oder Apples iPhone – auf dem eine so genannte Augmented-Reality-Software läuft. Die fungiert dann nämlich als digitaler Fremdenführer: So wird etwa beim Spaziergang durch die Altstadt vor einer unbekannten Kirche kurz das Handy gezückt, die Kamera ausgerichtet – und schon ist man buchstäblich im Bilde: Auf das Live-Bild der Kirche blendet die Software interessante Zusatzinformationen, wie den Namen, das Alter und den Erbauer ein. Wikitude und Layar, so die Anwendungen, d
Die Welt ist nicht genug
Augmented Reality Realität ist etwas für Arme. Reiche können dank moderner Technik ihr Wissen und Wahrnehmen in Echtzeit bereichern
Exklusiv für Abonnent:innen
Denis Dilba
|
1
, die für das Google-Handy zu haben sind, ziehen dazu beispielsweise Wikipedia oder das Bewertungsportal Qype heran. Auch Namen und Höhen von Bergen oder Öffnungszeiten von Restaurants lassen sich auf diese Weise herausfinden. Was gerade auf dem Bildschirm zu sehen ist, ermittelt das Mobiltelefon, indem es den eigenen Standort, den Neigungswinkel der Handykamera und die Ausrichtung eines digitalen Kompasses ermittelt und mit bekannten Positionsdaten von Gebäuden oder Landmarken abgleicht. Im nächsten Schritt holt es sich über eine mobile Internetverbindung die Beschreibungen zu den angezeigten Objekten und stellt sie in Echtzeit auf dem Bildschirm dar.Möglich wird dieses technische Kunststück durch den Fortschritt in der Programmierung und die neue Generation von Mobiltelefonen, die erstmals ausreichend Rechenleistung und die notwendige Sensorik für solche Anwendungen liefern. Die Technologie Augmented Reality, kurz AR, beschränkt sich aber längst nicht nur auf das Handy – oder ist gar nur dafür entwickelt worden. Forscher, wie der Augmented-Reality-Pionier Wolfgang Broll, Fachgebietsleiter Virtuelle Welten und Digitale Spiele an der Technischen Universität Ilmenau, begrüßen zwar die aktuellen Entwicklungen für den Mobilfunkmarkt ausdrücklich, weil sie davon ausgehen, dass der noch junge Forschungszweig dadurch einen deutlichen Schub erfahren wird, sprechen aber eher von abgespeckten AR-Anwendungen.Bei AR-Systemen im eigentlichen Sinn soll dem Nutzer die Zusatzinformation direkt ins Blickfeld eingespielt werden – ohne dass er selbst einen kleinen Ausschnitt, wie bei der Kamera eines Mobiltelefons, auswählen muss. Im Unterschied zur virtuellen Realität, bei der die Benutzer in einer gänzlich künstlichen, digitalen Umgebung stecken, sei das Ziel bei der AR eben nicht die Erschaffung einer künstlichen Welt, sondern die sinnvolle Erweiterung der natürlichen Umwelt. „Realität und Zusatzinformation verschmelzen dann nahtlos und schaffen eine neue Realität“, sagt Broll. „Diese Erweiterung der Realität beschränkt sich auch nicht nur auf virtuelle sichtbare Objekte, im Prinzip arbeiten wir daran, auch Sinneseindrücke wie Hören, Riechen und Fühlen für die AR einzusetzen.“Mit Helm und HandschuhBeispielsweise arbeitet die Magdeburger Firma Livingsolids an einer Kombination aus Display und Datenhandschuh, die virtuelle Objekte nicht nur sichtbar, sondern per Kraftrückkopplung auch greifbar machen kann. Während die Arbeiten zu den letzteren Sinneseindrücken, vor allem dem Riechen, noch in den Kinderschuhen stecken, hat die Erweiterung der Wahrnehmung im Sichtfeld schon einige Prototypen und Anwendungen hervorgebracht. Die ersten AR-Systeme aus diesem Bereich waren die Head-Up-Displays in Kampfjets, mit deren Hilfe den Piloten bereits seit den achtziger Jahren Informationen direkt ins Sichtfenster projiziert werden. Anwendungen im nichtmilitärischen Bereich sind noch vergleichsweise jung. Seit Anfang der neunziger Jahre arbeiten Forschungseinrichtungen verstärkt an der zivilen AR-Nutzung. Besonders für Wartung und Montage von Maschinen und Industrieanlagen ist die Technologie interessant. Dabei sei besonders die Zeitersparnis durch AR-Technologie ein enormer Vorteil, erklärt Broll.So hat der Automobilhersteller BMW innerhalb des vom Bundesforschungsministerium geförderten und 2004 abgeschlossenen ARVIKA-Projekts eine industriereife und mittlerweile in der eigenen Vorentwicklung eingesetzte AR-unterstützte Schweißtechnik entwickelt. Das Problem: Beim Bolzenschweißen im Prototypenbau müssen pro Fahrzeug rund 300 bis 400 Montagebolzen auf das Rohkarosserieblech geschweißt werden. Vor dem AR-Einsatz mussten die Positionen dieser Bolzen mit einer Hightech-Messanlage ausgemessen und dann einzeln per Hand auf dem Blech angerissen werden. Einzige Hilfe sind die Koordinaten jedes einzelnen Bolzens, entnommen aus dem 3D-Konstruktionsprogramm der Karosserie. Im nächsten Schritt erfolgen dann die Positionierung und der Schweißprozess, Bolzen für Bolzen. „Damit waren unsere Mitarbeiter pro Fahrzeug einige Tage beschäftigt“, sagt Thomas Wallner aus der Abteilung Technologie Montage.Um den Prozess mithilfe der AR zu vereinfachen, konstruierten die BMW-Ingenieure eine Schweißpistole mit Navigationsdisplay, die berührungslos die genauen Positionen auf der Karosserie ermitteln kann. „Mit der AR-Schweißpistole brauchen unsere Leute jetzt nur noch knapp einen halben Tag für den gesamten Schweißprozess, die Einsparung ist also wirklich enorm“, sagt Wallner. Für die Serienfertigung kommt die Technologie dennoch nicht in Frage: „In der Serienproduktion setzen wir Industrieroboter ein, die sehr viel schneller arbeiten als unser AR-System. Für die Werkstatt und die Qualitätssicherung im Prototypenbau wiederum wäre der Robotereinsatz viel zu aufwendig, da sind wir mit unserem AR-System wesentlich besser bedient“, sagt Wallner.Auch im Bereich Service experimentieren die Automobilbauer mit AR. Monteure könnten künftig mittels spezieller Datenbrillen, so genannter Head-Mounted-Displays (HMD), selbst komplizierteste Reparaturen präzise und in kürzester Zeit durchführen. Dicke Montagehandbücher, die mit öligen Fingern gewälzt werden müssen, sollen dann der Vergangenheit angehören. Über das HMD können dem Servicetechniker Informationen über jedes einzelne Bauteil des Fahrzeugs sowie virtuell animierte Darstellungen von Reparaturanleitungen ins Blickfeld projiziert werden. Eine große Hilfe für das Werkstattpersonal.Wirklichkeit macht KopfwehAber nicht nur in der Automobilbranche hofft man auf die AR-Technologie. An verwandten AR-Systemen auf Basis der HMDs wird in den verschiedensten Bereichen geforscht. So werden bereits Displaybrillen für interaktive Museumsführungen bis hin zu Operationshilfen in der Medizin getestet oder eingesetzt. Über ein HMD von Siemens kann ein operierender Chirurg bereits heute 3D-Daten, wie beispielsweise Computertomografie- oder Ultraschallbilder, direkt auf den Patienten projizieren und auf diese Weise Einblick in den Körper bekommen, ohne den Blick abwenden zu müssen. Auch interaktive Computerspiele, die die Realität durch virtuelle Einblendungen in solchen Cyberbrillen zu einer mittelalterlichten Abenteuerwelt mutieren lassen, sind bereits in Arbeit. Doch trotz viel versprechender Aussichten, lässt der Durchbruch der AR noch immer auf sich warten. Hauptgrund sind die Probleme mit den HMDs. „Sie sind noch zu schwer, zu unhandlich und zu teuer“, fasst Wallner zusammen.Dazu kommt ein grundsätzliches Hindernis mit dem alle AR-Techniken zu kämpfen haben: die kurze aber doch deutlich wahrnehmbare Zeitverzögerung zwischen dem, was der Nutzer durch die HMDs in der realen Welt sieht, und den in sie eingeblendeten virtuellen Objekten oder Texten. Laut Jurjen Caarls von der Delft University of Technology bewegt sich diese Verzögerung im Bereich von 80 Millisekunden. Der Jungforscher, der in seiner gerade abgeschlossenen Doktorarbeit ein AR-System mit halbdurchsichtigem HMD-Display entwickelt hat, versucht daher erst gar nicht, die erfassten Daten über Blickwinkel und Position möglichst schnell weiterzuverarbeiten, um die Objekte in Echtzeit einblenden zu können – er versucht einfach die Position des HMDs in der nahen Zukunft durch eine Hochrechnung der aktuellen Daten zu prognostizieren. Das funktioniere allerdings noch nicht so zuverlässig, wie er sich das wünsche, berichtet Caarls. Vor allem bei abrupten Bewegungen sei die Vorhersagequalität nicht ausreichend.Das Problem könnte dadurch gelöst werden, sagt Caarls, dass statt einer halbdurchsichtigen Brille eine undurchsichtige verwendet wird. So könnte der Träger des HMDs die Videos von seiner räumlichen Umgebung, um den Faktor der Berechnung der virtuellen Einblendungen verzögert, auf der Innenseite der Brille verfolgen. Dann passen zwar die Einblendungen perfekt zum Bild, allerdings würde auch diese Variante einen Nachteil haben: „Es gibt trotzdem eine unvermeidbare Zeitverzögerung zwischen den Bewegungen, die der Träger des HMDs tatsächlich macht, und dem was er auf der Innenseite der Brille sieht. Bei vielen Nutzern führt dies zu Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Sie bekommen praktisch die Bewegungskrankheit“, so Caarls.Taube Hasen sehen TöneNicht lösen, aber auf ein erträgliches Mindestmaß reduzieren, könnte dieses Problem eine Technologie, die die Funktion der HMDs in Kontaktlinsen integriert. Genau daran arbeitet derzeit ein Forscher-Team um Babak Amir Parviz von der University of Washington. Winzige LEDs in den Kontaktlinsen sollen dort zusätzliche Umgebungsinformationen quasi ohne Verzögerung in das Sichtfeld einblenden. Momentan arbeiten die Wissenschaftler noch mit einer einfarbigen Lichtquelle. Künftig wolle man aber Linsen entwickeln, die die natürliche visuelle Wahrnehmung mit hochauflösenden, farbigen Computergrafiken überlagern, sagt Parviz. Erste Tests der Hightech-Linsen an Hasen, so der Wissenschaftler, lassen darauf schließen, dass selbst die unifarbene Version Hörgeschädigten helfen könnte, indem sie bei bestimmten Ereignissen warnt, die sie durch ihr eingeschränktes Hörvermögen sonst nicht bemerken würden. Bis diese Linsen im menschlichen Auge zum Einsatz kommen können, müssen die Schaltkreise aber noch ausgiebig getestet werden: Weder giftige Chemikalien noch Hitze dürfen im Langzeiteinsatz freiwerden. Ungeklärt ist auch die Frage, ob solche Kontaktlinsen den Menschen auf Dauer nicht visuell überlasten.Die größten Hürden aber stellen den Forschern die Integration von Transistoren, Widerständen, Funkchips, Antennen, LEDs und dem Bilderkennungssystem auf einer winzigen Polymer-Linse – und zwar so, dass sie noch durchsichtig bleibt. Bisher ist das Sichtfeld noch eingeschränkt. Doch Parviz ist sich seiner Sache sicher: „Wir sehen schon eine Zukunft, in der unsere Kontaktlinsen eine echte Plattform für die Ideen von Entwicklern darstellen, so wie heute das iPhone.“„Denkt man diese Vision allerdings konsequent weiter“, sagt AR-Experte Broll, „kommen zu den enormen technischen Herausforderungen auch noch ungelöste Fragen für das zukünftige Leben mit einer solchen Technologie.“ Dabei wird AR-Spam, im harmlosesten Fall ungewollt eingeblendete Werbung, noch das geringste Problem sein. „Die Frage ist, wer sich so eine Technik künftig leisten kann – und wer nicht“, sagt Broll. Die Gefahr besteht, dass Menschen, denen diese Technologie nicht zur Verfügung steht, einen existenziellen Nachteil haben. „Das muss schon heute mitbedacht werden“, warnt der Wissenschaftler. Bis zur AR-Kontaktlinse werden aber noch mindestens 20 Jahre vergehen, meint Parviz. „Vorher setzt sich die AR-Technologie auf dem Handy und leichten mobilen Geräten durch – und zwar für alle“, ist sich Broll sicher.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken. Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos. Mehr Infos erhalten Sie hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt. Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.