Hungrig und erschöpft von dem langen Marsch – 1731 auf der Rückkehr aus Savoyen nach Paris – macht der 19-jährige Jean-Jacques Rousseau bei einem heruntergekommenen Bauernhaus in der Umgebung von Lyon Halt. Ein magerer Bauer öffnet die Tür. Er teilt mit ihm karge Nahrung, entrahmte Milch und Gerstenbrot. Dies sei alles, was er habe. Man isst zusammen, der Bauer fasst Vertrauen gegenüber dem jungen Mann, öffnet ein Geheimfach in der Küche und serviert Wein und Schinken. Rousseau versteht nicht. Der Bauer antwortet seinem verblüfften Blick: Wenn man Verdacht schöpfe, dass er vor Hunger nicht dem Verrecken nahe sei, müsse er um das Wenige fürchten, das er habe, um sein Leben.
Das ist der Augenblick, wo sich in Rousseau
usseau „dieser unauslöschliche Hass … gegen Kränkungen …, die das unglückliche Volk empfindet, und gegen seine Unterdrücker“, gegen die Ungerechtigkeit im Allgemeinen festsetzt.Der Braunschweiger Philosoph Bernhard Taureck will in seiner neuen Rousseau-Biografie mit Fehldeutungen dieses oft missverstandenen Denkers aufräumen: Rousseau habe kein „Zurück zur Natur“, sondern ein „Zurück zur Natürlichkeit“ gefordert, er habe seine Kinder nicht ausgesetzt, sondern in finanzieller Not in ein Heim gegeben und dies später bitter bereut.Ganz neu zeichnet ihn freilich auch Taureck nicht. Immerhin führt er sicher durch das literarisch-philosophische Werk des Autors und durch die üblichen Fragen: Rousseaus Liebe zur Natur und seinen Hang zur Einsamkeit, seinen Beitrag zur Weltliteratur, seine Beziehung zu Frauen, seinen Hang zum Exhibitionismus.Am meisten aber stellt er Rousseaus Hass gegen die Ungerechtigkeit in den Mittelpunkt. Der 1712 in Genf als Sohn eines Uhrmachers Geborene kannte Armut und Obdachlosigkeit. Er hatte niemals eine Schule oder Universität besucht: Rousseau war Autodidakt. Vielleicht war es dieses unabhängige Erschließen der Dinge, das ihn zu seiner radikalen Kulturkritik befähigte.In seinem Discours sur les sciences et les arts, mit dem er 1750 berühmt wurde, widersprach er heftig der Vorstellung, dass wissenschaftlicher und moralischer Fortschritt Hand in Hand gehen. Rousseau verneint die Preisfrage der Akademie von Dijon, ob Künste und Wissenschaften die Sitten gereinigt hätten. Sie würden uns verderben und die soziale Gleichheit zerstören.Taureck zeigt nun, dass der radikale Rousseau in seinem Essay durchaus zwischen Kritik und Affirmation geschwankt habe, bezeichne er doch Bacon, Descartes und Newton als „Lehrer des Menschengeschlechts.“ Dass er die Ausschreibung gewann, weil er die Aufklärer würdigte und eben nicht wegen seiner Kulturkritik, schließt Taureck nicht aus. Der Ruhm Rousseaus beruht dann also auf einem Missverständnis? Der Schriftsteller, Denker und Künstler, der uns die „Empfindsamkeit“ lehrte, wurde nur zufällig berühmt?Jedenfalls trug er ihm den unerbittlichen Hass seiner Kollegen zu. Man solle ihn in einen Kerker sperren und ihm ein Stück Brot zuwerfen wie einem Hund, so Voltaire. Diderot und Grimm standen ihm nicht nach. Durch Intrigen versuchte man Rousseau zu diskreditieren. Nicht ohne Erfolg. Bis heute kursiert in der Öffentlichkeit das Gerücht, er habe seine Kinder ausgesetzt. Was Rousseau zeitlebens nicht erfuhr: Voltaire hatte es verbreitet.Der Streit zwischen den beiden geht allerdings über diesen versuchten Rufmord hinaus. Die Gesellschaftskonzepte der beiden Philosophen könnten nicht gegensätzlicher sein. Während Voltaire eine liberal-bürgerliche Ordnung propagiert, konzipiert Rousseau eine „volkssouveräne Gesellschaft gleicher Staatsbürger“, in der er Mensch und Staatsbürger als Einheit sieht. Voltaire tritt für die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ein, befürwortet aber „die Herrschaft der Reichen über die Armen“, verlässt sich auf die freie Entfaltung des Marktes und nimmt Sklaverei in Kauf.Rousseaus Forderung nach Egalität reicht weiter als eine rechtliche Gleichstellung der Bürger und ist mit dem Verlass auf Marktgesetzte kaum vereinbar, Versklavung lehnt er vehement ab, weil „Sklave“ und „Recht“ einander ausschließende Kategorien seien.Bärbel Bohley hätte vermutlich ihre Freude an Rousseau: In seinem Discours sur l’origine de l’inégalité, später im Contrat social und auch in der emanzipatorischen Erziehungsschrift Émile betrachtet er die Erfindung des Rechts als den „größten Betrug der Menschheit“, weil sie nur dazu gedient habe, die Etablierten abzusichern und den Verlieren diesen Zustand als formal gerecht zu vermitteln.Hier setzt nun Taurecks interessanter Aktualisierungsversuch an: „In einer kritischen Phase der Globalisierung“, findet er, könnte Voltaire von deren Befürwortern in Anspruch genommen werden, während Rousseau umgekehrt ein Theoretiker der Globalisierungsgegner sei.Die Ausbeutungskritik Rousseaus ließe sich auch auf den derzeitigen Welthandel anwenden. Offene koloniale Ausbeutung findet heute zwar nicht mehr statt. Dafür entzieht unfairer Handel vielen Menschen die Lebensgrundlage und hindert die Entfaltung ganzer Volkswirtschaften. Handelspartner mögen rechtlich gleichgestellt sein, bei fortbestehender sozialer Abhängigkeit und ökonomischem Machtgefälle liegt im Rousseau’schen Sinne „Betrug“ vor: Das vertragliche Festschreiben von Ungerechtigkeit macht die Ungerechtigkeit nicht rechtens, sondern höchstens rechtsförmig.Rousseaus Forderung nach einer „Rückkehr zur Natürlichkeit“ ist nicht nur die Frühform einer ökologischen Phrase. Sie beinhaltet auch die kritische Reflexion auf die herrschende globale Ordnung. Bleibt nur zu hoffen, dass diejenigen, die zu einer solchen Reflexion fähig sind, missverstanden werden – wie Rousseau – damit man ihre Stimme hört.