„Es ist an der Zeit, dass Europa zuhört“

Interview Felwine Sarr sieht das Menschliche in der Ökonomie und glaubt an Afrika als Innovationslabor
Ausgabe 05/2019

Felwine Sarr ist Musiker, Romancier und Wirtschaftsprofessor. Vielleicht rührt es daher, dass er sich auch in seinen ökonomischen Texten nicht allein auf mathematische Modelle oder luftleere Abstraktionen beschränkt. Sein Essay Afrotopia, eben erst auf Deutsch erschienen, handelt beispielsweise auch von der Notwendigkeit einer „Kulturrevolution“ in Afrika: nicht nur um die Entkolonialisierung des Kontinents zu vollenden, sondern auch um einen neuen, für die ganze Welt richtungsweisenden afrikanischen Entwicklungspfad zu entwerfen, der ohne die Verwerfungen einer Industrialisierung im Sinne des 20. Jahrhunderts auskommt. „Am Tag der Revolution wird Afrika wieder das spirituelle Zentrum der Welt sein“, schreibt Sarr.

Mitte Januar sprach Felwine Sarr als Gast der Veranstaltungsreihe „Prosa der Verhältnisse“ im Gorki-Theater in Berlin mit dem Autor Deniz Utlu. Wir drucken hier Auszüge dieses Gesprächs.

Deniz Utlu: Herr Sarr, in Ihrem Essay „Afrotopia“ diskutieren und kritisieren Sie vorherrschende ökonomische Modelle, über die oft in einem sehr elitären Diskurs gesprochen wird, auf einer fast literarischen Ebene.

Felwine Sarr: Als ich Afrotopia geschrieben habe, war es mein Ziel, eine Art der Reflexion zu entwickeln, die sich quer durch die Disziplinen der Ökonomie, der Politik, die Bereiche des Sozialen und des Psychologischen entfaltet. Aber zugleich wollte ich in einer Sprache schreiben, die nicht esoterisch ist, sondern allen zugänglich.

Worin besteht die Afrotopia, die afrikanische Utopie, die Sie entwerfen?

Ich wollte zuallererst den Begriff der Utopie rehabilitieren: Utopie, das kommt von „ou-topos“ und bezeichnet einen Ort, der nicht da ist, man könnte auch sagen: der noch nicht da ist. Aber nur weil etwas noch nicht existiert, heißt das ja nicht, dass es nicht irgendwann in Zukunft existieren kann. Wenn man mit unserer Gegenwart unzufrieden ist, dann kann man damit beginnen, eine Utopie zu entwerfen, und sich dann dafür einsetzen, dass sie – im Laufe der Geschichte – Wirklichkeit wird. Mein Grundgedanke ist es, dass die Zukunft offen ist. Dass sie uns offensteht. Und dass es die Aufgabe der Afrikaner ist, ihre Zukunft selbst zu denken und eigene Metaphern dafür zu finden. Auf keinen Fall aber: diese Zukunft in eine Teleologie einzuschreiben, die schon gegeben ist, zum Beispiel die Moderne, das Entwicklungsparadigma oder Ähnliches.

Also keine „aufholende Entwicklung“ mehr?

Wenn man sich anguckt, wie – seit Langem – über Afrika gesprochen wird, dann sieht man, dass Afrika größtenteils ein Gegenstand ist, dem man vorschreibt, wie er sich zu entwickeln hat, welcher Organisationsformen er sich zu bedienen hat und so weiter. Dagegen ist die Utopie von Afrotopia ein Ort, den die Afrikaner erst erschaffen müssen, den sie sich vorstellen und erträumen müssen.

Ist „Afrotopia“ selbst eine jener Metaphern für die Zukunft, die Sie fordern?

Meine Idee war es nicht, praktische Anweisungen zu geben und zu sagen: Hier, so sollt ihr es machen! Eher ging es mir darum, den Boden zu bereiten dafür, dass darüber nachgedacht werden kann, was überhaupt wünschenswert ist: Wie können wir gut leben? Und wie gut zusammenleben? Das steht ja nicht ein für alle Mal fest. Wir können und sollen nicht einfach nur etwas, was schon anderswo funktioniert hat, übernehmen. Wenn man sich unsere afrikanischen Gesellschaften anguckt, dann sieht man, dass sie sehr viele soziale Innovationen hervorbringen, auf ganz vielen verschiedenen Gebieten. Aber die meisten dieser Innovationen geschehen da, wo man sie nicht sieht, wo sie nicht benannt werden, nicht theoretisch gedacht und deshalb nicht bemerkt werden. Deshalb verbringen wir unsere Zeit damit, Afrika anzugucken und zu sagen, was Afrika alles fehlt, damit es endlich so wird wie Europa. Das ist ja die Art, wie Europa auf die Welt schaut: Die Welt ist das, was ihr fehlt, um so zu werden wie Europa.

„Afrotopia“ zitiert an einer Stelle Aimé Césaire: Lieber in einer Hölle leben als in einer schlechten Kopie des Paradieses ... Sie beschränken sich aber nicht darauf, die Auswüchse der westlichen Moderne zu kritisieren, sondern zeigen alternative Ansätze auf: Ideen und Vorstellungen, die teilweise aus der vorkolonialen Zeit, der vorkolonialen Bibliothek, wie Sie es nennen, stammen.

Ich nehme die Wirtschaft als Beispiel. Wenn man von Wirtschaftswissenschaft redet, vergisst man oft, dass die Wirtschaft zuallererst eine Anthropologie ist: Sie handelt von Individuen, die über bestimmte Ressourcen verfügen, die in einer bestimmten Geografie und unter bestimmten Zwängen leben und die versuchen, unter diesen Umständen ihre begrenzten Ressourcen möglichst optimal für ihre Bedürfnisse einzusetzen. Nur: Selbst das grundsätzlichste ökonomische Geschehen, also Produktion, Konsumtion, Tausch, ist kein natürliches Verhalten, sondern besteht samt und sonders aus sozialen Konstruktionen.

Zur Person

Felwine Sarr, 46, unterrichtet Wirtschaft an der Universität Gaston Berger in Saint-Louis in Senegal. Zusammen mit Bénédicte Savoy wurde Sarr 2016 von Emmanuel Macron damit beauftragt, einen Bericht zur Rückgabe afrikanischer Kunst, die während des Kolonialismus in französische Museen gebracht wurde, zu erarbeiten. Im November 2018 empfahlen Sarr und Savoy eine möglichst rasche und umfassende Restitution von Exponaten aus afrikanischen Ländern

Was heißt das?

Dass es in der Menschheitsgeschichte eine Pluralität von ökonomischen Verhaltensweisen gibt, von Arten, sich zum Bereich der Ökonomie zu verhalten. Die Art des Wirtschaftens, die heute in Europa und anderswo dominiert, ist zu einem bestimmtem Zeitpunkt entstanden, sie folgt einer gewissen Dynamik und sie wird früher oder später wieder verschwinden, da bin ich mir ganz sicher. Es gibt ja jetzt schon ernst zu nehmende Ökonomen, die vom Post-Kapitalismus sprechen, und darüber, wie ein Wirtschaftssystem aussehen kann, wenn es keinen Finanzmarkt mehr gibt und Ähnliches. Was will ich damit sagen? Die Wirtschaft ist in erster Linie eine Beziehung. Jeder materielle Austausch gründet sich auf eine soziale Beziehung, die ihn erst ermöglicht. Viele Gesellschaften haben das verstanden und gründen ihre materiellen Werte auf eine „relationale Ökonomie“, in der es zu allererst um zwischenmenschliche Beziehungen geht. Wenn man letztere untersucht, bemerkt man, dass es eine Art altes und tiefgehendes Substrat gibt, aus dem ganz unterschiedliche Formen der Wirtschaftsbeziehungen hervorgehen, eben jene Anthropologien, von denen ich sprach. Wenn ich versuche, Alternativen zu suchen und zu formulieren, dann beziehe ich mich auf die Ökonomie als Beziehungsgeflecht, das die Voraussetzung ist für jeden materiellen Tausch.

Was mir aufgefallen ist: „Afrotopia“ verzichtet komplett auf die Rolle Europas oder jener des Westens. Es geht an keiner Stelle darum, dass Europa dieses oder jenes machen sollte, könnte oder dürfte: Europa ist komplett irrelevant.

Das Ziel meines Essays war es, ausgehend vom afrikanischen Kontinent zu reflektieren. Der Ort, von dem aus man denkt und von dem aus man sich der Welt zuwendet, ist wichtig. Deswegen kritisiere ich auch eine Reihe von Begriffen, die aus dem mythologischen Universum Europas kommen und behaupten, allgemeingültig zu sein, aber es in Wahrheit gar nicht sind. Mein Ziel war es nicht, Europa zur Verantwortung zu ziehen, sondern stattdessen selbst die theoretische und historische Initiative zu ergreifen. Deswegen geht es auch nicht darum, was Europa zu tun hätte, sondern darum, was wir Afrikaner tun müssen.

Ich möchte trotzdem fragen: Welche Rolle kommt Europa zu?

Von meiner Warte aus würde ich sagen, dass man von Europa in den letzten fünf Jahrhunderten sehr viel gehört hat, Europa hat viel gesprochen und der Menschheit ohne Zweifel viel gegeben, das muss man anerkennen. Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass Europa lernt zuzuhören. Und zu begreifen, dass wir in einer Welt leben, in der es eine Vielzahl verschiedener Archive und Traditionen gibt, die bedeutend und fruchtbar sind. Die Herausforderungen, vor denen wir als Menschheit stehen, sind so groß, dass wir alle Ressourcen brauchen werden. Unsere Ressourcen aber existieren in einer Vielheit, in einer Pluralität, sie kommen aus Asien, aus Indien, aus Afrika, von überallher.

Hat das auch in Ihrer Arbeit im Auftrag von Emmanuel Macron eine Rolle gespielt? Sie sollten zusammen mit Bénédicte Savoy Empfehlungen zu dem Thema der Rückgabe afrikanischer Kunst und Kulturgegenstände erarbeiten und haben sich mit zahlreichen europäischen Museumsleuten und Konservatoren getroffen.

Eine der großen Herausforderungen, der wir da begegnet sind, war es, ein Verständnis dafür zu wecken, dass es eben nicht nur eine, sondern eine Vielzahl von möglichen Umgangsweisen gibt, wie man mit Kunstgegenständen und dem kulturellen Erbe überhaupt umgeht, wie es aufbewahrt und ausgestellt wird und so weiter. Manchmal war es schwer, das zu vermitteln, stattdessen fragte man uns: Werdet ihr ein Museum bauen, das genau so funktioniert wie unseres und unsere Idee des Umgangs mit Kulturerbe repliziert? Das ist ja eine Tautologie, es sieht aus wie ein Dialog, ist aber in Wirklichkeit ein Monolog. Europa spricht manchmal nur mit sich selbst. Wenn ich also einen Rat geben soll, dann wäre es der, mehr zuzuhören.

Gibt es in Ihren Augen im gegenwärtigen Afrika eine politische Bewegung, die auf etwas davon hinarbeitet, was Sie in „Afrotopia“ angedacht haben?

Eine der Schwierigkeiten, die wir in Afrika haben, ist, dass in der Gesellschaft soziale Gruppen Formen des Politischen, des Ökonomischen und des Kulturellen produzieren, die innovativ sind, aber dass die real existierende Politik darauf nicht eingeht, weil sie nicht den vorgegebenen institutionellen Formen entsprechen. Es gibt da einen großen Widerspruch: Die Gesellschaften sind innovativ, aber das wird von den offiziellen Institutionen nicht aufgenommen. Deshalb: Nein, ich sehe derzeit keine politische Bewegung, die in diese Richtung gehen würde. Aber ich bin sicher, dass das kommen wird.

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