Der Freitag fragt, ob durch Migration die deutsche Vergangenheit in größere Ferne rücke, weil die biografische Verbindung zur Geschichte nicht bestehe. Es sind aber mindestens zwei Kanäle über die diese Verbindung doch besteht: der Ort und die Sprache.
Die Herkunft der Großeltern oder Urgroßeltern enthebt einen Menschen nicht aus dem Kontext seiner Umgebung, seines Ortes: Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, sowie der Ort, an dem ich mich befinde, stehen in einem Verhältnis zu mir. Wenn ich über sie nachdenke, denke ich über mich selbst nach und umgekehrt. Ich frage nach der Geschichte des Ortes, an dem ich lebe, an dem ich mich entwerfe, weil mich hier die Stränge der Vergangenheit treffen, in den Institutionen, im Alltag. Auch was die Eltern tradieren, die nicht in Deutschland geboren sind, was sie weitergeben, sickert durch die Gesteinsschichten des Ortes zu mir, an dem nun auch sie schon den größeren Teil ihres Lebens verbracht haben. Jenseits der Frage, ob die eigenen Großeltern in einem biografischen Bezug zu Nazi-Deutschland stehen, bleibt die Vergangenheit Deutschlands nicht nur so lange relevant, wie sie strukturierend in die Gegenwart reicht, sondern bezeichnet immer auch das mögliche Ausmaß dessen, was Menschen Menschen antun können. Und doch kommt eine territoriale Komponente hinzu: Die Vergangenheit hört nie abrupt auf, die Gegenwart bleibt ihre Transformation, Strukturen werden reproduziert: Geschichte wirkt in die Gegenwart hinein, wird von ihr umgearbeitet und immer wieder neu begriffen. Migration kann einen Einfluss darauf haben, wie die Geschichte in die Gegenwart wirkt, weil sie ihre eigenen Bezüge zu der Geschichte schafft, etwa in Kunst und Kultur. So trifft nicht nur die Vergangenheit auf die Migration, sondern umgekehrt auch die Migration auf die Vergangenheit. Das ist aber keine Entfernung, sondern eine doppelte Annährung.
Jüdische Lehrmeister
Wenn Deutschland der Ort des Schaffens wird, zum Beispiel für Künstlerinnen und Schriftsteller, dann kommt in diesem Schaffen den Traditionen dieses Ortes automatisch eine hohe Bedeutung zu. Nicht nur im Sinne einer künstlerischen Traditionslinie, denn diese waren in Kunst und Literatur schon immer globaler als in der Rezeption – man denke an Goethes berühmten Begriff der „Weltliteratur“. Auch im Sinne eines Verstehens der eigenen Erfahrungen an diesem Ort und auf der Suche eines Umgangs damit. Wenn beispielsweise Künstler mit Migrationszuschreibung, die sich der Kultur verpflichten, nicht selten zurückgeworfen werden auf ihre unterstellte Herkunft.
In dem Versuch zu verstehen, wo dieses Abtasten nach der Herkunft herkommt und wie dem begegnet werden kann, können sie an ihrem Ort des Schaffens nach Traditionen und Widerständen suchen. In Deutschland wird diese Suche nicht selten zu jüdischen Lehrmeistern führen. Diese Verbindung muss nicht biografisch sein, die Urgroßeltern müssen nicht Zeit und Ort beispielsweise mit Moritz Goldstein geteilt haben, um in den eigenen emanzipatorischen Bemühungen auf eine deutsche Vergangenheit und auf das Denken eines Moritz Goldstein zurückzugreifen: Der Assoziationsraum des Ahnenbegriffs vergrößert sich durch Migration.
Deutsche Schuld heute
Debatte „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“, hat Joachim Gauck 2015 im Bundestag gesagt. Aber wird das so bleiben? Es verändert sich gerade etwas. Die Zeitzeugen sterben und Menschen prägen das Land, deren Vorfahren weder Täter noch Opfer waren. „Die Frage, wie eine Vergangenheit gegenwärtig bleibt, wenn die biografischen Bezüge fehlen, stellt sich ebenso, wenn diese Bezüge sich allmählich auflösen, wie wenn es sie nie gab“, schrieb Navid Kermani in der FAZ. Darüber wollen wir diskutieren. Mit Intellektuellen, Autoren, die einen sogenannten Migrationshintergrund haben. In der Ausgabe 36 druckten wir als ersten Beitrag einen Mailwechsel zwischen der Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan und Freitag-Verleger Jakob Augstein. „Sich verbunden zu fühlen, ist keine Frage der Nationalität. Sondern eine der Erziehung“, schrieb Foroutan. Unser heutiger Debatten-Autor Deniz Utlu würde hinzufügen: und der Sprache.
Der Essay Deutsch-jüdischer Parnaß des jüdischen Journalisten Moritz Goldstein, den er fast drei Jahrzehnte vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht hat, bewahrt sicherlich Gültigkeit für viele Kulturschaffende mit Migrationsbezug. Die Philosophin Seyla Benhabib zitiert in ihrer Lucas-Preis-Rede „Gleichheit und Differenz“ von 2013 in diesem Zusammenhang folgende Stelle aus Goldsteins Essay: „Machen wir uns nichts vor: Wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die anderen fühlen uns ganz undeutsch. Wir mögen nun Max Reinhardt heißen und die Bühne zu ungeahntem Aufschwung beflügeln, oder als Hugo von Hofmannsthal einen neuen poetischen Stil an die Stelle der verbrauchten Schiller’schen Bildersprache setzen, oder als Max Liebermann die moderne Malerei führen: wir mögen das deutsch nennen, die anderen nennen es jüdisch, sie hören das ‚Asiatische‘ heraus, sie vermissen das ‚germanische Gemüt‘.“
An dem Ort, an dem ich werde und schaffe, finde ich also Traditionslinien, die Ausschluss und Zuschreibung, aber auch Emanzipation aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken lassen. Diese verbinden sich mit weiteren Traditionslinien, die Eltern oder Großeltern aus anderen Ländern mitgeben – die mich aber immer nur durch ein Verstehen erreichen, das hier in Deutschland geschult wurde.
Die Vergangenheit wirkt auch durch die Sprache in die Gegenwart hinein. Worte, vielleicht mehr als alles andere, wie George Steiner in einem Essay in den 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts postuliert, sind ein Speicher der Zeit. Wie wir uns ausdrücken, wie wir über manche Themen reden und bei anderen plötzlich die Worte nicht finden, was wir pathetisch oder sentimental erleben, welche Assoziationsräume durch bestimmte Worte geöffnet werden, hat immer auch etwas damit zu tun, was der Sprache selbst angetan wurde und was man mit dieser Sprache angetan hat. Die Worte als Speicher der Zeit verarbeitet zum Beispiel der Lyriker Max Czollek in seinem Gedichtzyklus Von der Wiederkehr. Unter Rückgriff auf die ersten Zeilen aus Claudius’ Nachtlied „Der Mond ist aufgegangen / die goldenen Sternlein prangen / am Himmel hell und klar“ schreibt Czollek: „sterne sind / gelb und haben sechs ecken, VERDAMMT, sterne / sind entfernte wolken und bestehen aus: gas / VERDAMMT“ (2016). Das Wort „Stern“ ist hier nicht mehr nur die Bezeichnung eines Himmelskörpers, kann es nicht mehr sein, das Wort „Gas“ ist viel mehr als ein Aggregatszustand.
Auf Dimli oder Wayuunaiki
Für Deutschsprachige – ob mehrsprachig oder nicht, ob eingewandert oder nicht –besteht über den „Speicher der Worte“ eine Verknüpftheit mit der deutschen Geschichte. Im literarischen Schreiben kann das deutlich werden: Die Sprache wird durch ihre narrative Anwendung reflektiert, die zunächst keine wissenschaftliche, sondern eine poetische Präzision anstrebt – auch in dem Versuch des Erleben-lassens und Mitempfinden-lassens. Dadurch entfalten Worte eine Eigenmacht: Sie lassen sich definitorisch nicht mehr zähmen. Was von der Zunge oder von der Hand geht, steht immer auch im Verhältnis zum bewussten und unbewussten Assoziationsraum der Worte, ebenso, was ausgespart wird. Wenn nun eine deutschsprachige Autorin die Geschichte ihrer Vorfahren entwirft, die vielleicht in der Türkei oder in Kolumbien gelebt haben, wird sie Teil einer Doppelbewegung: Einerseits interveniert sie öffnend in die deutsche Sprache, weil sie den Wörtern zusätzliche Konnotationen andichtet, die vorher nur auf Dimli (eine der Sprachen in der Türkei) oder Wayuunaiki (eine der Sprachen in Kolumbien) empfunden werden konnten. Andererseits spürt die Autorin die entworfene Geschichte ihrer Vorfahren in der Verletztheit ihrer eigenen Schreibsprache, nämlich dem Deutschen, auf, in der wiederum die Spuren der deutschen Vergangenheit irrevokabel sind.
Ein Beispiel für eine Doppelbewegung war für mich ein Video des Rebell Comedy Club Anfang 2016. Die Comedians unterbrachen die Show für ein Gedicht: Hinter uns mein Land. Zwei Stimmen erzählen vom Heimatverlust, von der Mutter, vom Apfelbaum, vom Bolzplatz und „im Exil angekommen, heißt mich ein Heer willkommen“. Die eine Stimme spricht aus dem Jahr 2016, sie bekommt den Namen Ahmed Yusuf. Die andere Stimme spricht aus dem Jahr 1938 und bekommt den Namen Daniel Levy. Das Gedicht unterbricht das Lachen einer Comedy-Show für eine Intervention, die keine Angst vor Pathos hat, die sich nicht zurückzieht hinter den Schutzwall der Ironie, die angreifbar bleibt, weil sie über die Angegriffenen spricht. In diesem Beispiel besteht eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit nicht nur implizit in der Sprache, sondern explizit im Thema und den genannten Jahreszahlen. Die Verbindung, das große Kontinuum, welches sich in der Sprache auftut, kann dabei auch in der Form allein liegen, etwa – um ein Beispiel von so vielen zu nennen – in der Zerbrechlichkeit der Worte Aglaja Veteranyis, wenn sie in ihrem Text Warum das Kind in der Polenta kocht die Geschichte einer aus Rumänien eingewanderten Zirkusfamilie erzählt: „Gibt es tatsächlich einen Zirkus im Himmel?“
Vielleicht besteht so in der Geschichtserweiterung des sprachlichen Assoziationsraums, indem die verletzte Sprache – Zafer Senocak spricht hier von „gebrochen Deutsch“ – für eine Verletzung, die außerhalb ihres Raums – ihres Ortes – geschah, belebt wird, eine Möglichkeit: nämlich zu reproduzieren, was von Zärtlichkeit übrig blieb und von Emanzipation. Und nicht zu reproduzieren, was in den Werken eines Hugo von Hofmannsthals nur „das Asiatische“ fand. Das heißt nicht, dass jemals etwas wiederhergestellt werden könnte von dem, was endgültig verloren ist. Es heißt aber zu entscheiden, auf was wir aufbauen und was wir nie wieder zuzulassen.
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