Vermutlich wäre die Nachricht, dass Karamba Diaby im Herbst ziemlich sicher der erste schwarze Bundestagsabgeordnete wird, bloß eine Nachricht geblieben – wäre sein Wahlkreis nicht jener mit der Nummer 72. Diaby tritt für die SPD in Halle an der Saale an. Ein Schwarzer aus dem Osten: Das macht die Nachricht zur Geschichte. Die Frage ist nur, zu was für einer Geschichte. Oder besser gesagt: Wie sie erzählt wird.
Es ist Samstagvormittag, Karamba Diaby steht in einer Sporthalle bei einem Judo-Turnier und kramt in seinen Manteltaschen. Er sucht etwas Internationales. Schließlich zieht er einen E-Mail-Ausdruck hervor. „Ah ja, Dauergast Russland“, sagt er. Dann liest er weiter: „ ‚...hat leider abgesagt.‘ Ach so. Aber hier sind doch trotzdem auch internationale Teilnehmer, oder?“ Sein Pressesprecher kommt angelaufen. „Es sind Mannschaften da aus Tschechien, Österreich und der Slowakei“, sagt er. Diaby lächelt. Er zieht seine Schuhe aus, steigt auf die Judomatten und spricht ins Mikrofon: „Mit diesem Turnier demonstriert Halle, dass es nicht nur eine sportliche, sondern auch eine internationale Stadt ist.“
Wenn es nach Diaby ginge, dann wäre die Geschichte eine „internationale Geschichte“. International ist sein Lieblingswort. Er verwendet es ziemlich oft und am häufigsten, wenn er von seiner Stadt spricht. Er sagt, er wolle „Botschafter Halles“ sein. Eines weltoffenen, „internationalen Halles“.
„Einen Schwarzen anfassen“
Nach der Rede kommen die Vorsitzenden des Judo-Clubs auf Diaby zu. Sie haben kürzlich die Vereinssatzung geändert, erzählen sie, um besser gegen „homophobe und rechtsradikale Tendenzen“ unter einigen Mitgliedern vorgehen zu können. „Wir müssen nur mehr Sport machen, dann haben wir hier keine Probleme mehr, mit ... ach du weißt ja“, sagt der Vize. „Wir müssen den Kindern von klein auf beibringen, dass man einen Schwarzen auch einfach anfassen kann.“ Während er das sagt, legt er seinen Arm um Diabys Schultern.
Das ist die Geschichte der Presse: der internationale Diaby im tiefen Osten.
Diaby hört den Vorsitzenden lange zu. Der Vize arbeitet nebenbei als „Demokratietrainer“. Er berichtet von Fremdenfeindlichkeit, vor allem in den Fußballclubs des Umlands. Der SPD-Kandidat verspricht Unterstützung. „Diaby im Osten“ könnte eine ziemlich gute Geschichte sein. Eine Heldengeschichte. Diaby, 1961 im Senegal geboren, ist ein Waisenkind. Er wuchs bei seiner großen Schwester in einer Kleinstadt auf. 1985 kam er mit einem Stipendium der Internationalen Studentenbewegung in die DDR. Er sprach kein Wort Deutsch – ein paar Jahre später war er promovierter Geoökologe. Er heiratete eine Kommilitonin, mit den zwei gemeinsamen Töchtern leben sie heute in einem Altbau in der Innenstadt von Halle.
Zur Politik kam er eher spät. Erst vor fünf Jahren trat Diaby in die SPD ein. Aus dem Ortsverein ging es für ihn schnell nach oben. 2009 wurde er Stadtrat in Halle, letzten Herbst nominierte ihn die Partei als Direktkandidaten für den Bundestag. Dazu hat er Platz drei auf der Landesliste. Ein Mandat ist ihm nahezu sicher. „Ich habe schon immer Gesellschaftspolitik gemacht“, sagt er. „Aber ich war lange skeptisch, ob Parteipolitik das Richtige für mich ist.“ Er fürchtete, seine Unabhängigkeit zu verlieren.
Nach der Promotion war Diaby zunächst Chef der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt, dann wurde er Vorsitzender des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates. Heute arbeitet er als Referent der Ausländerbeauftragten. „Irgendwann habe ich die Grenzen meiner Arbeit gespürt“, sagt er. Dinge, die er jahrelang angemahnt hatte, wurden von der Politik nur langsam umgesetzt. „Ich will mehr erreichen, und ich habe gemerkt, dass man das auf Parteitagen tatsächlich kann.“
Exotisch für die Presse
Es gibt kaum eine bessere Aufsteiger-Integrations-Nord-Süd-Ost-West-Geschichte. Diaby selbst möchte diese Geschichte nur gar nicht so gern erzählen. Er sagt, er wolle seinen Wahlkampf lieber mit klassischen SPD-Themen führen: Gerechtigkeit, Bildung, Umwelt. Aber als Kandidat braucht er mediale Aufmerksamkeit. Und die bekommt er als „Diaby im Osten“. Sämtliche wichtigen deutschen Medien haben bereits angefragt, dazu Journalisten aus Frankreich und Russland.
„Ich verstehe, dass eine exotische Lebensgeschichte interessant für die Presse ist“, sagt er. Warum auch nicht? Ist ja eine Heldengeschichte. Die Sache hat nur einen Haken für Diaby: Es gibt keine Heldengeschichten ohne das Böse. Aufhänger für all die Geschichten über ihn wird die Stadt sein, für die er kandidiert. Es wird wohl immer wieder diesen Gegensatz geben: Diaby – Halle. Es wird eine Konfliktgeschichte sein. Und welcher Kandidat kann sich das schon leisten, einen Konflikt mit seiner eigenen Stadt?
„Also wenn Sie tote Tauben suchen, dann sind Sie hier falsch“, sagt Diaby, bevor er in die Innenstadt aufbricht. Er lacht. Vielleicht ein bisschen zu laut und lange. Vor einigen Wochen war im Spiegel zu lesen, wie Diaby von Halle schwärmte, während ein Kind eine tote Taube auf der Straße herumkickte. Unter dem Titel „Das Experiment“ berichtet der Text von Diabys Kandidatur in einer „Hochburg des Rechtsextremismus“, in der es nachts an einigen Ecken lebensgefährlich für Schwarze sei. Diaby selbst wurde 1991 einmal von zwei Männern verfolgt und geschlagen.
Es war ein kleiner Artikel im Spiegel. Doch in Halle war man wütend. Die Mitteldeutsche Zeitung und mehrere Onlinemedien empörten sich heftig über die Darstellung. Auch Diaby wendete sich mit einem offenen Brief gegen den Autor: Er bediene plakativ Klischees von Ostdeutschland. „Natürlich haben wir hier einige Probleme“, sagt Diaby. „Aber Halle ist keine Hochburg. Ich fühle mich hier sicher.“
Der Spiegel-Autor zitierte zur Verteidigung Ergebnisse der Landtagswahl 2011, als die NPD in einem Stadtteil 9,8 Prozent erreichte, sowie Berichte des Landesverfassungsschutzes, wonach es um Halle zwei die „Szene prägende“ rechtsextreme Gruppen gäbe.
„Hochburg“ ist ein relativer Begriff. Vielleicht war er tatsächlich überzogen. Es gibt schlimmere Städte. Selbst einer der Organisatoren der Initiative „Halle gegen Rechts“ ist mit dem Wort nicht einverstanden. Doch das eigentliche Problem ist ein anderes. „Es gibt bestimmt viele, die den Artikel gar nicht gelesen haben“, sagt Diaby. „Die hören nur: Der Diaby war in der Zeitung, und da steht, Halle sei eine furchtbare Stadt.“ Das wäre sie dann, die Geschichte „Diaby gegen Halle“. Es ist eine vertrackte Situation. Als Bundestagskandidat kann er nichts so wenig gebrauchen wie weitere tote Tauben in der Presse. Doch womöglich ist es gerade seine eigene Strahlkraft, die sie immer wieder provozieren wird: keine Heldengeschichte ohne das Böse.
Kein rechtsextremes Kaff
Als Diaby die Händel-Statue auf dem Marktplatz erblickt, setzt er zu einem atemlosen Vortrag an: „Wir haben die Händel-Festspiele, wir haben die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, wir haben eine Uni mit 2.100 internationalen Studenten, Anton Wilhelm Amo war hier, der erste Afrikaner, der jemals an einer europäischen Universität studiert hat, 1727. 1727!“ Diaby lächelt. „Ist Ihnen Halle immer noch nicht international genug?“
Diabys Halle ist der Gegenentwurf zur Geschichte der überregionalen Presse. Für seinen Wahlkampf muss er „Diaby im Osten“ zu „Diaby mit dem Osten“ machen: Zeigen wir gemeinsam ganz Deutschland, dass Halle nicht das rechtsextreme Kaff aus dem Spiegel-Artikel ist.
Die Frage ist, ob er es schafft, sich dabei seine kritische Stimme nach innen zu bewahren. Oder ob er gezwungen sein wird, als lächelnder Botschafter auf der Empörungswelle mitzusurfen und nur über Händel zu dozieren. Er möchte die Probleme in seiner Stadt nicht verharmlosen. Er tut viel im Hintergrund. Aber die Presse macht ihn nervös. Sie raubt ihm seine Unbefangenheit. Wenn er die Presse einmal vergisst, läuft eigentlich alles ganz gut.
Er trägt Laufschuhe mit Dämpfsohle und segelt mit wallendem Mantel durch die Innenstadt. Er läuft schnell, aber nicht gehetzt und lässt keine Hand ungeschüttelt. Er lächelt und winkt, macht Scherze hier und dort, verteilt Karten, manchmal lacht er einen Tick zu laut, aber er biedert sich nicht an. Er hat die bei Politikern seltene Gabe, auf dem Marktplatz Würde zu bewahren. Typ unkomplizierter Helfer, besonnen und verbindlich. Überall in der Fußgängerzone kommt er gut an.
Es klappt sogar mit den Arbeitslosen, die vor „Kurt’s Grillhähnchen“ rumhängen. Diaby kommt hier seit Jahren vorbei, er kennt die Geschichten der Menschen und sie kennen seine, es wird viel gelacht. Später kommt ein Mann auf ihn zu, „Ey“, sagt er, „du bist doch der eine Typ. Ey, ich wähl’ dich, misch’ den Laden mal auf, okay?“
Botschafter des internationalen Halle
Es ist ein Tag, wie er besser nicht laufen könnte für den Botschafter des internationalen Halle. Bis die Sache mit dem Adolf-Apfel passiert – Diaby schüttelt noch schnell einem Obsthändler die Hand, ein kurzes Gespräch, Witze, Schulterklopfen. „So und jetzt kriegt ihr noch zwei Äpfel von mir“, sagt der Mann zum Abschied, er drückt Diaby einen in die Hand und sagt: „Des is’n Adolf-Apfel. Wurde im Reich angebaut, die Sorte.“ Diaby erstarrt. Das ist jetzt eine tote Taube.
Der Obsthändler lacht auf, erzählt von einer alten verwirrten Frau, die bei ihm immer den Adolf-Apfel bestelle, aber Diaby hört nur noch halb zu. Er steht da, mit dem Apfel in der Hand und lächelt verloren, na wenn das so sei, na dann wolle er den Apfel lieber nicht geschenkt. „Ach komm, Karamba!“, sagt der Obsthändler und klopft ihm wieder auf die Schulter. Ja aber, sagt Diaby, das müsse man der Frau doch erklären, das dürfe man so doch nicht sagen. „Karamba, das kannste vergessen bei der Alten!“ Ja, wirklich? Okay, haha. Diaby will nicht unhöflich sein und nimmt den Apfel.
Wahrscheinlich hätte er anders reagiert, wenn er keinen Reporter dabeigehabt hätte. Diaby und sein kleines Team aus Helfern haben die Wucht der Nachricht unterschätzt, dass ein Schwarzer aus dem Osten in den Bundestagswahlkampf einsteigt. Bisher fehlt ihnen eine Medienstrategie. Die Geschichte vom internationalen Botschafter Halles ist vielleicht nicht die richtige, wenn ihr schon ein Apfel gefährlich werden kann.
Am liebsten würde Diaby wohl gar keine Geschichte erzählen. Er sucht nach Gelassenheit, er möchte im Kleinen handeln, statt die große Konfrontation zu suchen. Vielleicht ist es auch das, was ihn so lange aus der Parteipolitik ferngehalten hat.
Es mag ein kluger Weg sein. Aber die Strukturen des Wahlkampfs und der Presse stehen dem entgegen. Sie drängen zu Zuspitzung und Gegensätzen, links, rechts, Ost, West, schwarz, weiß. Eine solche Erzählung duldet selten das Zwielicht, die Offenheit, den Zufall. Sie will Symbole. Sie will die geschlossene Form.
So steht der Botschafter am Ende der Geschichte auf einer Straße in Halle und kramt in seinen Manteltaschen. Er findet einen Adolf-Apfel. Und weiß nicht mehr, was er sagen soll.
In einer anderen Geschichte schenkt Karamba Diaby den Apfel einem Mann auf der Straße. Der Autor isst seinen im Zug nach Berlin. Dann ordnet er seine Notizen.
Der Wahlkreis 72: Halle an der Saale
Als eine der wenigen deutschen Großstädte hat Halle den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet überstanden – fast nirgendwo in Deutschland findet man eine derart gut erhaltene Altstadt. Nach der Wende wurden viele der barocken Häuserensembles nach und nach restauriert. Doch viele stehen heute leer. Wie so viele Städte im Osten kämpft Halle gegen die Abwanderung in den Westen. Seit 1990 ist die Bevölkerung der Stadt um rund ein Viertel geschrumpft. Nach Prognosen des Statistischen Landesamtes werden es bis 2025 noch einmal zehn Prozent weniger Einwohner sein. Hauptgrund für die Abwanderung ist die hohe Arbeitslosigkeit, die letztes Jahr bei 12,1 Prozent lag. Dennoch ist Halle mit 234.000 Einwohnern noch die größte Stadt Sachsen-Anhalts, 10.000 davon sind Ausländer.
Als Direktkandidatin für Halle sitzt derzeit Petra Sitte von der Linken im Bundestag. Bei der Wahl im Jahr 2009 erreichte sie 33,7 Prozent der Erststimmen – der SPD-Kandidat nur die Hälfte. Für Karamba Diaby wird das Direktmandat keine leichte Angelegenheit. Diaby, 51, kam 1985 zum Studium aus dem Senegal nach Deutschland. Seit 1986 lebt er in Halle. Er ist promovierter Chemiker und Geoökologe. In die SPD trat er vor fünf Jahren ein, nachdem er eine TV-Doku über Willy Brandt gesehen hatte. Auf seiner Website finden sich neben seinem politischen Programm auch senegalesische Kochrezepte. yüc
Dennis Yücel schrieb im Freitag zuletzt darüber, welche Erfahrungen er als Bayer mit türkischem Vater mit der Integrationsbereitschaft der Deutschen gemacht hat.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.