Abgeschobene Verantwortung

Modell Deutschland Die Änderung des Grundrechtes auf Asyl vor fünfzehn Jahren hat in Europa Schule gemacht

Vor 15 Jahren wurde das Grundrecht auf Asyl entkernt. Der schlichte Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht", der Ausdruck des Nachkriegskonsenses einer parlamentarischen Versammlung war, in der zum Teil selbst Menschen mit Fluchterfahrungen das Wort führten, wurde von der deutschen Politik um einschränkende Absätze ergänzt. Jene entziehen den meisten Menschen in Not das, was zuvor verheißen wird. Mit der Änderung des Grundgesetzes hat man die historischen Wurzeln des grundrechtlich verbürgten Asyls gekappt. Mit der Begründung, das speziell deutsche Grundrecht mache die Bundesrepublik zum Ziel aller Flucht, ging man mit der so genannten Drittstaatenregelung einen Weg, der den größten Teil der Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen Anderen aufbürdet. Seitdem kann sich, wer aus einem als sicherer Drittstaat eingestuften Staat nach Deutschland flieht, nicht mehr auf das Asylgrundrecht berufen. Deutschland befindet sich in komfortabler Mittellage, umgeben von sicheren Nachbarstaaten.

Der vom Gesetzgeber gewollte Bedeutungsverlust des Asylgrundrechts war dennoch nicht das zentrale Instrument, mit dem Deutschland sich seiner Verpflichtung für den Schutz von Flüchtlingen entledigt hat. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention gebietet es, Menschen nicht in Verfolgerstaaten zurückzuschicken und ein angemessenes Verfahren zur Prüfung der Flüchtlingseigenschaft zur Verfügung zu stellen. Deshalb wurde und wird zunehmend versucht, Flüchtlingen bereits den Fluchtweg abzuschneiden - mit Visumzwang, Vorkontrollen an den Flugzeugtüren, Aufrüstung der Außengrenzen. Politiker propagieren die Regionalisierung des Flüchtlingsschutzes, was nichts anderes heißt, als den Hauptaufnahmestaaten auch noch den Rest der Flüchtlinge aufzubürden.

Die staatliche Wegelagerei und Fluchtverhinderung war für den Rückgang der Asylantragstellerzahlen entscheidend, nicht die Grundgesetzänderung. Doch bot letztere den argumentativen Kern, mit dem sich heute die ganze EU ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz zu entledigen sucht. Auch das Bundesverfassungsgericht hat das geänderte Asylrecht passieren lassen - mit dem Hinweis, es sei die Voraussetzung für ein gemeinsames europäisches Asylrecht. Ob die angeblich sicheren Drittstaaten, in die ein Flüchtling weitergereicht wird, ihrer Verantwortung gerecht werden, spielt keine Rolle. Es soll genügen, dass der Gesetzgeber sich einmal abstrakt vergewissert hat, dass der Drittstaat die einschlägigen Menschenrechtsabkommen unterzeichnet hat. Das Modell hat Schule gemacht. Es heißt: Verantwortung auf Andere abschieben.

Trotz aller EU-Richtlinien, die Flüchtlinge betreffen, kann von einem gemeinsamen Asylsystem nicht die Rede sein. Wer heute tatsächlich einen der EU-Staaten erreicht, nimmt teil an einem Glücksspiel: Anerkennungschance nahe Null oder fast hundert Prozent, Lebensbedingungen mies oder zumindest erträglich. Überall gilt die Genfer Flüchtlingskonvention, fast überall wird sie umgangen, restriktiv ausgelegt oder ignoriert.

Das gemeinsame europäische Asylsystem ist ein Torso, eine ebenso uneingelöste Verheißung wie der aus der Ruine des Asylgrundrechts herausragende Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Europas Asylsystem ist heute weniger bedroht vom Missbrauch, den Politiker immer wieder ins Feld führen als vom staatlichen Sankt-Florians-Prinzip der weitergeschobenen Verantwortung. Die Demontage des Asylgrundrechts hat die Lebensbedingungen von Asylsuchenden faktisch weniger beeinflusst als viele andere Maßnahmen, die im Zeichen der Abschreckungsdoktrin standen: Lagerunterbringung, beschränkte Bewegungsfreiheit, soziale Unterversorgung, unfaire Asylanhörungen. Aber sie war das Modell Deutschland für das künftige Verständnis des Flüchtlingsschutzes in Europa: Schutz ja, aber anderswo.

Bernd Mesovic arbeitet bei der Flüchtlingsorganisation PRO ASYL.

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