Die informelle große Koalition zum Abbau von Grundrechten überdauert die Perspektive einer vorgezogenen Bundestagswahl offenbar mühelos: In der vergangenen Woche haben sich Union, SPD und Grüne auf eine Fortsetzung des großen Lauschangriffs verständigt und sie im Eiltempo durch Bundestag und Bundesrat geschleust. Mit Billigung der SPD eingeführt von Union und FDP im Frühjahr 1998, hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im März letzten Jahres die akustische Wohnraumüberwachung in der derzeit gültigen Form für verfassungswidrig erklärt. Die Kernpunkte der richterlichen Kritik: Es dürfte zu leicht und zu viel gelauscht werden.
Zu leicht, weil der maßgebliche Paragraph der Strafprozessordnung den großen Lauscha
en Lauschangriff schon für mittelschwere Delikte wie Scheckfälschung erlaube. Die Verfassung aber gebiete es, das Abhören der vom Grundgesetz besonders geschützten Wohnung auf schwere Fälle zu beschränken. Zu viel, weil private Gespräche in jedem Fall geschützt sein müssen und nicht abgehört werden dürfen. Das Gericht hatte dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 30. Juni 2005 gesetzt, um den großen Lauschangriff verfassungskonform umzugestalten. Ohne eine Einigung zwischen Bundestag und Bundesrat wäre die akustische Wohnraumüberwachung daher in einer Woche vorerst ersatzlos entfallen.Fast war es so weit, nachdem der Bundesrat einen rot-grünen Modifikationsvorschlag vor einigen Wochen verhinderte. Das wäre für den durch Otto-Pakete und biometrische Pässe arg gebeutelten Grundrechtsschutz eine spannende Perspektive gewesen: Aufgrund der voraussichtlich verkürzten Legislaturperiode, in die auch noch die Sommerpause fällt, erscheint es nahezu ausgeschlossen, dass die Koalition eine neue Formulierung hätte einbringen können. Die Union hätte sich dann nach einem Wahlergebnis ohne absolute Mehrheit mit der FDP auseinandersetzen müssen - der einzigen potenziellen Regierungspartei, die den großen Lauschangriff kategorisch ablehnt.Aber es kam anders: Als ginge es um die Staatsräson, peitschten SPD, Union und Grüne vergangene Woche einen Kompromiss durch, den die FDP zutreffend schamlos genannt hat. Die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts, die Überwachung müsse bei privaten Gesprächen abgebrochen werden, wurde noch umgesetzt. Vergewaltigt dagegen haben die Verhandlungsführer die Einschränkung, der große Lauschangriff dürfe nur bei schwerer Kriminalität eingesetzt werden. Das BVerfG hatte eine angedrohte Mindeststrafe von fünf Jahren gefordert, um schwere und also "lauschangriffsfähige" von mittelschweren Vergehen eindeutig zu trennen. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet eben zum Berg kommen, hat sich die ganz große Koalition wohl gedacht und kurzerhand den Strafrahmen für Delikte wie gewerbsmäßige Scheckfälschung auf mindestens fünf Jahre Gefängnis festgesetzt. Zum Vergleich: Das ist der Mindestrahmen auch für Totschlag.Die Neuregelung entspricht nun noch gerade eben dem Wortlaut der Karlsruher Entscheidung, ganz bestimmt aber nicht ihrem Geist: Denn die Richter des Bundesverfassungsgerichts, gerade im maßgeblichen Ersten Senat des dogmatischen Linksliberalismus eigentlich unverdächtig, haben eine Entscheidung zu Gunsten der Freiheit und der Bürgerrechte und zu Lasten des harten Staates gefällt, der seine Bürger erst mit fragwürdigen Methoden überwacht und dann einsperrt. Dabei war das Urteil innerhalb des Senats sogar umstritten: Zwei Richterinnen gaben ein abweichendes Votum zu Protokoll, in dem sie den großen Lauschangriff für schlechthin verfassungswidrig hielten, weil er die elementaren Grundsätze der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit verletzte.Union, SPD und Grünen haben sich somit nicht nur über den materiellen Gehalt des Urteils hinweggesetzt - sie haben darüber hinaus auch den Rat hochqualifizierter Richter missachtet und zeigen sich grundrechtlich beratungsresistent. Bundesjustizministerin Zypries (SPD) ließ vergangene Woche darüber hinaus verlauten, man brauche den großen Lauschangriff "zur Abschreckung". Generalprävention, vulgo Abschreckung, ist aber eine Funktion der Strafandrohung, nicht schon des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, das eigentlich der Wahrheitsfindung dienen soll.Besonders unverständlich ist das Verhalten der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, die der elementaren Grundrechtseinschränkung ebenso wie der Verhöhnung des Bundesverfassungsgerichts zustimmte - ohne Not: Die Koalitionsräson mag dies angesichts der Neuwahlen kaum gerechtfertigt haben, denn die Grünen sind erkennbar auf Opposition fixiert. Die Grünen haben so nicht nur versäumt, sich im latenten Bundestagswahlkampf als Partei der Freiheitsrechte zu profilieren, sie haben auch die minimale Chance verspielt, die Neuregelung des Lauschangriffs zu verhindern, um die CDU nach der Wahl in eine Auseinandersetzung mit der FDP zu zwingen. Die FDP hätte dann vermutlich klein beigegeben - jetzt indes hat sie die Gelegenheit, das Etikett der Bürgerrechtspartei aufzupolieren.Der Vorgang offenbart, dass sich das Verhältnis zwischen verfassungsgerichtlicher Judikative auf der einen und Legislative und Exekutive auf der anderen Seite nahezu wöchentlich verschärft. Vorgaben der Verfassung und des sie maßgeblich konkretisierenden BVerfG, die mit gutem Grund das Fundament der liberalen Bürgerdemokratie schützen sollen, begegnet der Gesetzgeber mit dem Einigungsvorschlag: Wenn wir beide einer Meinung sind, nehmen wir deine, sonst meine. Sollte das Bundesverfassungsgericht dem allzu nassforschen Auftreten etwa des Bundeskanzlers in Sachen Parlamentsauflösung einen Riegel vorschieben, um deutlich zu machen, wer hinsichtlich der institutionellen Spielregeln im Staat der Koch und wer der Kellner ist - es wäre nur allzu verständlich und letztlich auch gut begründet.