Amok-Alarm

Berliner Abende In Kreuzberg hat gestern die Polizei eine Schule gestürmt und nach einem Bewaffneten gesucht. Heute sitze ich wie jeden Tag auf dem Spielplatz auf ...

In Kreuzberg hat gestern die Polizei eine Schule gestürmt und nach einem Bewaffneten gesucht. Heute sitze ich wie jeden Tag auf dem Spielplatz auf der Bank, beobachte über die Zeitung hinweg die Rutsche und meditiere. Ein gut sortierter Kinderspielplatz ersetzt jedes vermeintlich richtige Leben, einschließlich seiner Amokläufe.

Der Sandkasten: Manche buddeln tiefer und tiefer, Sand rutscht nach, sie schippen ihn aus dem Loch, und nach vielen Jahren dämmert ihnen: Ach, das war jetzt also mein Lebenswerk.

Die Rutsche. Wir klettern die Leiter hoch, boxen die Kleinen zur Seite, und dann: Augen zu und hui und Ende.

Auf die Fleißigen wartet das Loch, das sie gebuddelt haben. Sie vollenden ihr Lebenswerk und legen sich hinein. Auf uns, die Faulen, wartet nach dem Rutschen: nichts.

Die Buddhisten und die Kinder glauben, man könne einfach wieder hinaufklettern und noch mal rutschen. Die Christen glauben, wenn sie nur lang genug im Sand gesessen haben, käme irgendwann der Tag, an dem der verschwundene Papa wiederkehrt und sie endlich hochhebt - auf eine Rutsche, die niemals endete! Und die Moslems, ach Gott. Am Ende jeder Rutsche 72 Jungfrauen. Auf den Spielplätzen in Prenzlauer Berg kommt das ungefähr hin.

Oben auf der Rutsche stehen ein paar halbstarke Mädchen. Grundschulalter. Sie singen laut: "99 Handgranaten fliegen aufn Kinderga´ten!" Die Tochter sitzt unter der Rutsche im Sand und wartet.

Eine Stimme reißt mich aus der Meditation. "Morgen Mittag, ja, das würde passen", ruft hinter der Rutsche ganz laut ein Kerl mit szenigem Flusenbart in sein Telefon. Der ganze Spielplatz ein Großraumbüro. Unsere Vorfahren haben die Kinder noch mit aufs Feld genommen. Wir Heutigen tragen das Feld zu den Kindern.

Hinter mir eine andere Stimme: "Morgen Mittag, gut. Sagen wir, 13 Uhr 30?" Die Tochter sitzt unter der Rutsche im Sand und wartet. Vielleicht sollten wir sie doch noch taufen lassen.

Ich versuche wieder, in der Zeitung zu lesen. Polizeinsatz an der Kreuzberger Schule: "Knapp 20 Prozent der Schüler sind nichtdeutscher Herkunftssprache." Diese Zeitung glaubt, noch bei jedem mutmaßlichen Falschparker die vermeintliche ethnische Zugehörigkeit angeben oder wenigstens herleiten zu müssen. 20 Prozent nichtdeutscher Herkunftssprache. Wie haben sie das herausgefunden? Und was für eine Herkunftssprache hat der Deutschrusse, der noch am selben Tag wegen des Amok-Alarms festgenommen worden ist?

Die Gören auf der Rutsche singen noch immer: "99 Handgranaten fliegen aufn Kinderga´ten!" Ein Mann steckt sein Taschentelefon in die Telefontasche, reckt den Hals und ruft: "Fiona, Chiara, Zoe! Abmarsch!" Der chiffrierte Befehl zum Zuschlagen. Ich tippe 110. "Ja, hier Anschlagsdrohung auf dem Spielplatz. Handgranaten. 99 Stück. Wie? Warum wollen Sie das wissen? Damit Sie es für den Tagesspiegel in die Pressemitteilung schreiben können. Ja, verstehe. Also, den Namen nach zu schließen nichtdeutsche Herkunft. Aber jetzt machen Sie bitte mal ein bisschen hinne!"

Die Tochter strahlt, als ich sie hochhebe. "Noch mal?" Als ich den Kinderwagen vom Spielplatz schiebe, höre ich in der Ferne das Martinshorn. Viele Martinshörner. Die Tochter singt: "La-li! La-li!"

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