Der Mann jagt Mammuts, die Frau schürt das Feuer und hütet die Kinder in der heimeligen Höhle. Auf Gemälden des 19. Jahrhunderts erscheint das prähistorische Geschlechterverhältnis ungefähr so, wie es das bürgerliche Familienideal damals vorsah. Noch in den 1950ern betrachtete die Forschung den männlichen Frühmenschen als Haupternährer und Werkzeugerfinder, der den Fortschritt antrieb. Diese patriarchalen Rollenbilder werden bis in die Gegenwart hinein transportiert.
In ihrem Buch Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann zeigt die französische Archäologin Marylène Patou-Mathis, warum viele Steinzeitklischees mit der historischen Wirklichkeit wenig zu tun haben und wie sich die Sicht auf die Geschlechterverhältnisse in ihrem Fach in den vergangenen 150 Jahren verändert hat.
Ein wichtiger Anstoß kam von feministischen Ethnologinnen wie Eleanor Leacock, die sich seit den 1960ern gegen die bis dahin vorherrschenden patriarchalen Gewissheiten für den Gedanken stark machten, dass „in bestimmten Gesellschaften – vor allem der Jäger und Sammler – Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern geherrscht haben könnte“. Entsprechende Indizien seien von männlichen Wissenschaftlern einfach übersehen worden. In der Folge unterzogen Wissenschaftlerinnen die klassischen ethnografischen Studien einer Neulektüre und unternahmen selbst Feldforschungen. Aufgrund ihres Geschlechts hatten sie Zugang zu sozialen Bereichen, die ihren männlichen Kollegen versperrt geblieben waren, wie Menstruationshütten oder weibliche Initationsriten. Sie kamen in deren Arbeiten nicht vor oder wurden als weniger wichtig eingestuft.
Werkzeuge, nicht Waffen
Um Aufschlüsse über prähistorische Geschlechterverhältnisse zu gewinnen, ist die erst in den 1980er-Jahren in Nordamerika begründete Gender- oder Geschlechterarchäologie weitgehend auf die Untersuchung fossiler Skelette sowie bildnerischer Darstellungen angewiesen. Damals kam es noch vor, dass Archäologen ihren jungen Kolleginnen empfahlen, sich im Labor zu betätigen, statt selbst bei Ausgrabungen mit Hand anzulegen. Auch hier waren weibliche Perspektiven zunächst marginal. Unter einem Archäologen stellte man sich einen Abenteurer à la Indiana Jones vor. Gleichwohl setzten feministisch orientierte Forscherinnen auch hier allmählich neue Sichtweisen durch, die den biologischen Determinismus, der die Darstellungen der Geschlechterrollen bis dahin dominierte, obsolet erscheinen ließen.
Der Fortschritt biologischer Untersuchungsmethoden leistete dabei wertvolle Hilfsdienste. Die Ergebnisse von DNA-Analysen ergaben beispielsweise, dass viele Skelette, die zunächst als männlich eingeordnet worden waren, in Wirklichkeit zu Frauen gehörten. Gegenstände, die man als Kriegswaffen eingestuft hatte, erwiesen sich später als Werkzeuge, die nicht in erster Linie zum Töten von Menschen, sondern zur Jagd oder zur Zerlegung der tierischen Beute verwendet wurden. Nach und nach setzte sich die Überzeugung durch, dass viele prähistorische Objekte kaum Rückschlüsse über das Geschlecht ihrer Nutzer zuließen. Die Tatsache, dass Frauen und Männer auf die gleiche Weise bestattet wurden, legte nahe, dass sie auch einen vergleichbaren sozialen Status hatten.
„Je mehr wir über die Urgeschichte wissen“, so Patou-Mathis, „umso mehr zeigt sich, dass das Patriarchat keinerlei anthropologische Grundlage hat.“ Anders gesagt: Auch die Archäologie belegt, dass der Mensch von Natur aus ein kulturelles Wesen ist, das von Anfang an ganz verschiedene Geschlechterordnungen realisiert hat. „Die prähistorischen Kulturen und Gesellschaften waren weitaus komplexer und stärker diversifiziert, als man noch vor Kurzem glaubte.“
Am Ende eines faktenreichen, aber zugänglich geschriebenen Buchs steht ein Appell, der das Miteinander der Geschlechter betont: „Nun ist es an der Zeit, statt der Vorherrschaft des einen über das andere Geschlecht die Komplementarität der Geschlechter anzustreben. Das Patriarchat muss durch ein neues System ersetzt werden, das es gemeinsam zu schaffen gilt.“
Info
Weibliche Unsichtbarkeit. Wie alles begann Marylène Patou-Mathis Stephanie Singh (Übers.), Hanser Verlag 2021, 288 S., 24 €
Kommentare 5
Einen heute ganz aktuellen weiteren Aspekt kann man nachlesen in:
Eich, A. (2015): Die Söhne des Mars. Eine Geschichte des Krieges von der Steinzeit bis zum Ende der Antike. C.H.Beck, München
Uff, ist das einfältig und platt: "Die Ergebnisse von DNA-Analysen ergaben beispielsweise, dass viele Skelette, die zunächst als männlich eingeordnet worden waren, in Wirklichkeit zu Frauen gehörten. Gegenstände, die man als Kriegswaffen eingestuft hatte, erwiesen sich später als Werkzeuge, die nicht in erster Linie zum Töten von Menschen, sondern zur Jagd oder zur Zerlegung der tierischen Beute verwendet wurden."
Also, es gab wissenschaftlich-handwerkliche fehler bei der geschlechtsbestimmung - waren sie absicht, und wenn ja, warum? Und es gab alltagsgegenstände die zu waffen wurden - das ist ein gemeinplatz spätestens seit dem bauernkrieg!
Dass das patriarchat nicht am anfang der menschlichen kulturgeschichte stand, ist ein ur-alter hut.
Was soll also in diesem artikel neues verkündet werden - dass die gesellschaft nicht schon immer wie die jetzige war? Auch das ist eine erkenntnis, die seit Karl Marx offenbar immerwieder wiederholt werden muss - gelernt wurde sie offenbar nie.
Mich wundert es auch ein wenig, dass nun schon der zweite Artikel in Folge staunend darauf hinweist, "Prähistorische Gesellschaften waren diverser, als wir bisher dachten." Also, das Klischeedenken über die Menschengesellschaften vor der agrarischen Revolution ist wohl tatsächlich immer noch, aber nicht mehr bei allen, so: Muskulöse Kerle toben grunzend durch die Landschaft, keulen große Tiere, fressen sich an deren Kadavern satt und geben den beeren- und wurzelnsammelnden Weibchen auch ein bisschen was ab. Das wird ja geelegentlich sogar im Alltags-Feminismus kolportiert. Wie nennt man einen dumpf-patriarchalischen Kerl heute? - "Cave-Man".
In der Forschung aber ist das schon lange nicht mehr so. Die soziale Diversität, die Geschlechterverhältnisse, die Modi der Arbeitsteilung, der Gebrauch von Werkzeugen und Techniken, all das wird seit vielen Jahrzehnten nicht mehr so gesehen. So ein Buch, wie das hier besprochene, ist bestimmt sehr interessant und könnte dem einen oder anderen Typen noch was erzählen. Aber im Alltagsbewusstsein vieler anderer Leute ist das diverse Neolithikum z.B. spätestens angekommen, als Fiction-Autorinnen wie Jean M. Auel in den 1970er Jahren die archäologischen Forschungsergebnisse und ihre wiss. Auswertung rezipiert hatten und ab 1980 historische Romane aus dem Stoff entwickelten.
»„Je mehr wir über die Urgeschichte wissen“, so Patou-Mathis, „umso mehr zeigt sich, dass das Patriarchat keinerlei anthropologische Grundlage hat.«
Das dürfte ungefähr hinkommen. Allerdings erfolgt daraus nicht zwangsläufig, dass prähistorische Gesellschaften diverser waren als bislang gedacht. Sie waren einfach nur anders als bislang angenommen. Tatsächlich überschritt schon das Narrativ vom Patriarchat wissenschaftliche Aussagegrenzen; das Narrativ vom Matriarchat oder der Diversität tut das genauso. Die Wissenschaft weiß nicht, wie diese Gesellschaften waren; die "Geschichten aus der Prähistorie" formulieren einen Flickenteppich aus Einzeldaten zwar zu konsistenten Erzählungen - die im Wesentlichen zeitgeistige Absichten befriedigen - tatsächlich aber aufgrund ihrer Überschreitung der Aussagegrenzen nichts mit Wissenschaft zu tun haben.
Damit ist die Deutung der Daten als Hinweis auf Matriarchats/Diversitätsstrukturen allerdings genauso legitim und fraglich wie ihre Deutung als Hinweis auf Patriarchatsstrukturen. Eigentlich finde ich es für wünschenswert, auf solche Deutungen ganz zu verzichten und einfach weiterzuforschen, bis irgendeine Deutung sich mit unabweisbarer Evidenz aufdrängt, das heißt: bewiesen werden kann.
Es ist garnicht anders möglich, als daß die Menschheit von den Müttern geschaffen wurde, und daß die frühen Menschengruppen matrilineal organisiert waren, und daß die Mütter ihre männlichen Nachkommen soweit domestiziert hatten, daß diese bei ihren Müttern, Tanten, Großmüttern und Schwestern bleiben konnten, anstatt wie bei allen anderen Säugetieren sich nach Erreichen der Geschlechtsreife von der mit ihnen verwandten Weibergemeinschaft zu trennen. Und das aber mit einer strengen Exogamie, d.h. der Tabuisierung von Geschlechtsverkehr (und sogar schon gemeinsame Nahrungseinnahme) mit Verwandten, d.h. solchen die aus demselben Uterus abstammen. Verstöße dagegen mußten streng geahndet werden, mit Ausstoßung aus der Horde oder dem Tod.
Die Fortpflanzung bei den Säugetieren ist nun mal so, daß die männlichen Wesen bis auf den Tod um den exklusiven Zugang zu den weiblichen Geschlechtsorganen kämpfen, außer bei manchen hundeartigen, wo das durch Hormonsuppression vermieden wird.