Attraktiv und prekär

Ressourcen Die Philosophen Ludger Heidbrink und Alfred Hirsch liefern Hintergründe zu dem Schlüsselbegriff „Verantwortung“

Wenn Gletscher schmelzen, Menschen verfolgt werden oder rote Zahlen in den Bilanzen auftauchen, wird die Frage der Verantwortung ge­stellt. Ende der siebziger Jahre sprach Hans Jonas sein philosophisches Machtwort vom „Prinzip Verantwortung“. Den Fatalismus, den Industrie und Technik ange­sichts der ökologischen Zerstörung ver­breiteten, beschrieb der Soziologe Ulrich Beck als „organisierte Unverantwortlichkeit“.

Verantwortung entwickelte sich auch dort zum Schlüsselbegriff, wo es um den richtigen Umgang mit Verbrechen ging – individuelle oder kollektive, gegenwärtige oder längst vergangene. Mit dem Präfix „Eigen“ überschwemmte der Begriff Verantwortung schließlich die Kanäle der Öffentlichkeit, um eine neue Arbeits- und Sozialpolitik durchzusetzen.

Das anhaltende Interesse an diesem Terminus veranlasste den Philosophen Ludger Heidbrink zu einer Kritik der Verantwortung (2003). Sein nächstes Buch Handeln in der Ungewissheit untersuchte die Paradoxien der Verantwortung (2007). Paral­lel dazu gab Heidbrink zusammen mit seinem Kollegen Alfred Hirsch eine insgesamt 1.500 Seiten umfassende Trilogie der Verantwortung heraus. Dieses Unternehmen startete 2006 mit Verantwortung in der Zivilgesellschaft. Im vorigen Jahr folgte Staat ohne Verantwortung? Jetzt erschien Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip.

Die persönliche Verantwortung, die jedes Subjekt für das Gelingen seines Lebens trägt, kann nicht delegiert werden. In allen Bereichen menschlicher Kooperation eignet sich der Begriff der Verantwortung, das jeweilige Wechselverhältnis von Person und Gemeinschaft zu bestimmen. Zwar gilt als Grundsatz: Eine Person kann, im positiven wie im negativen Sinn, nur für das verantwortlich gemacht werden, wofür sie etwas kann. In modernen Gesellschaften wird Verantwortung jedoch zugleich attraktiv und prekär.

Typisch sind hier offene, unübersicht­liche Lebenslagen, dynamische Entwicklungen und die Übermacht anonymer Prozesse. Verantwortung zu übernehmen bedeutet nicht mehr, wie in traditionalen Gesellschaften, ein vorgefertigtes Geflecht von stabilen Erwartungen zu erfüllen. Es bedeutet, jene Situationen zu erschließen, die zunächst jenseits der Verantwortung zu liegen schienen.

Die Beiträge verdeutlichen die negativen Rückwirkungen der neoliberalen Reformpolitik auf das Prinzip Verantwortung. Sie untersuchen deren Essentials auf der Ebene des Wirtschaftsbürgers, des Unternehmens und der Volkswirtschaft. So soll sich jeder Wirtschaftsbürger unternehmerische Haltungen zulegen und Lebensrisiken in Eigenverantwortung begegnen. Die Unternehmen sind aufgerufen, sich als kollektive Bürger („Corporate Citizen“) zu begreifen, die soziale Aufgaben übernehmen.

Volkswirtschaftlich wird angestrebt, das Sozialversicherungsprinzip aufzugeben und die bestehende Mitbestimmung in der Wirtschaft abzuschaffen. In der Summe steckt hinter dieser Neuverteilung der Verantwortung eine Umdeutung der demokratischen Gewaltenteilung.

Das Problem bei der ganzen Sache ist nur: Die Zuschreibung von Verantwortung setzt gerechte und demokratische Zurechnungsregeln voraus. Um Verantwortung übernehmen zu können, benötigt der einzelne außerdem bestimmte Fähigkeiten, materielle Ressourcen und äußere Handlungsmöglichkeiten.

Die persönliche Verantwortung muss daher jeweils durch die kollektive Verantwortung gesichert sein – und umgekehrt. So gesehen kann man diese Bestandsaufnahme auch als eine Warnung vor dem Versuch der neoliberalen Orthodoxie lesen, diesen lebensnotwendigen Zusammenhang mit der Neuverteilung der Aufgaben zwischen Staat, Gesellschaft und Wirtschaft aufzulösen.

Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und ÖkonomieLudger Heidbrink/ Alfred Hirsch (Hrsg.), Frankfurt/New York, Campus-Verlag, 2008, 544 S., 39,90

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