Auf nach Nirgendwo

Zwischen den Stühlen sitzen geblieben Die Ukraine ein Jahr nach der Orange-Revolution

Als im Dezember 2004 die in Orange auftretenden Massen die Wiederholung einer offenkundig gefälschten Präsidentenwahl erzwangen, schöpften sie einen Gutteil ihres Muts und ihrer Hoffnung aus einer vagen Vision, genannt "europäische Perspektive". Wie immer von einem halben Dutzend Zwischenhändlern repräsentiert, schaltete sich die EU verhältnismäßig rasch in den am Rande des Bürgerkriegs kochenden Konflikt ein und half, das Terrain für den Wahlsieg des heutigen Präsidenten Viktor Juschtschenko zu bereiten. Wie nahe ist die Ukraine unter diesem "westlich orientierten" Staatschef seither an Europa herangerückt? Oder anders gefragt: Hat Europa - von flüchtigen, medial vermittelten Sympathiereflexen abgesehen - den Revolutionären ihre Sympathie gedankt?

Blickt man nur auf die für den zwischenmenschlichen Alltag so wesentlichen Reisebestimmungen, ist die Antwort klar. Im Frühjahr hob Juschtschenko als einsame Vorleistung die Visapflicht für EU-Bürger auf und erhob die Ukraine damit zum einzigen GUS-Staat, der westlichen Besuchern frei und spontan zugänglich ist. Schengen-Europa hat im Gegenzug die demütigende Visa-Prozedur für Ukrainer nicht nur verschärft, sondern die Ukrainer mit dem Stigma von "Visa-Affären" abermals als Volk von Huren, Zuhältern und Kriminellen skandalisiert. Äußerungen wie die des EU-Außenpolitikers Javier Solana, für die Ukraine komme "alles außer Mitgliedschaft" in Frage, haben jenen numerisch schwer zu fassenden Teil der Ukrainer, der tatsächlich in die EU strebt, enttäuscht. Auch die Vereinbarungen des Ukraine-EU-Gipfels vor Wochenfrist ändern daran wenig.

Ohne dass Kiew damit Brüssel nennenswert näher gekommen wäre, hat es sich doch von Moskau spürbar entfernt. Wie der gerade wieder verschobene Besuch des russischen Premierministers zeigt, sind die normalen Arbeitsbeziehungen zwischen den beiden ökonomisch hochgradig verzahnten Nachbarn längst nicht wieder hergestellt. Auch der neue ukrainische Ministerpräsident Jurij Jechanurow - ein aus Russland stammender Dealmaker aus der Ära des Ex-Präsidenten Leonid Kutschma - hat bislang nichts wenden können. Noch ist Europa im Spiel um die Ukraine stärker als Russland, doch ist Russlands Interesse an der Ukraine größer. Auch wenn der Umbruch vor einem Jahr nicht zuletzt als instinktive Abwehr russischer Großmachtpolitik zu verstehen war, sind Millionen Ukrainer mit Russland durch Familienbande, Sprache, Kultur und Lebensart verbunden. Es ist dies möglicherweise sogar eine Mehrheit der Ukrainer, die sich von einem Zusammengehen mit Russland mehr versprechen als von einer schmerzhaften Integration nach EU-Kriterien. Nur sind beide Optionen - das Europa der 25 und ein bis dato dahin dümpelnder "Einheitlicher Wirtschaftsraum" mit Russland, Belarus und Kasachstan - nicht miteinander vereinbar.

Die Ukraine hat so wieder den Platz eingenommen, auf den sie seit der Unabhängigkeit von Ende 1991 abonniert war - zwischen den Stühlen. Auf absehbare Zeit kann die Juschtschenko-Administration nur minder attraktive Ziele erreichen - den Beitritt zu WTO und NATO. Auch wenn der Nordatlantikpakt noch abwartet, wie die Parlamentswahlen im März verlaufen, hat Generalsekretär de Hoop Scheffer bei seinem jüngsten Kiew-Besuch den Beitritt grundsätzlich gutgeheißen. Allerdings dürfte Juschtschenko mit seinen NATO-Ambitionen der Opposition in einem traditionell NATO-kritischen Land eine Steilvorlage liefern. Noch von Vorgänger Kutschma entsandt, stehen und sterben ukrainische Soldaten im Irak. Als NATO-Staat würde die Ukraine für die Sicherheit des Westens bluten, ohne auf einem gemeinsamen Markt mit dem Westen willkommen zu sein.

Die Jubiläumsfeiern der Orange-Revolution haben insofern einen bitteren Beigeschmack hinterlassen. Gewiss ist mit der Meinungsfreiheit viel gewonnen, aber die Demonstranten von einst scheinen von der Geschwindigkeit schockiert, mit welcher der Honeymoon revolutionärer Romantik undurchsichtiger Realpolitik gewichen ist. Um Jechanurow als Ministerpräsidenten durchsetzen zu können, hatte der ohnehin durch interne Konflikte geschwächte Juschtschenko ein Memorandum mit seinem pro-russischen Erzrivalen Viktor Janukowitsch unterzeichnet, das den Wahlfälschern von 2004 Straffreiheit verspricht. Zwischen West und Ost entscheiden zu müssen, fällt beinahe jedem Ukrainer - nicht zuletzt dem Präsidenten - unendlich schwer. Es fehlt nicht viel, und die Ukraine landet im Nirgendwo.


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