Einer der fruchtbaren Anstöße, zu denen man sich nach diesem rhythmisch vibrierenden, mehr auf Augen und Sinne als durch das gesprochene Wort geradezu körperlich wirkenden Theaterabend stimulieren lassen kann, ja sollte, ist die Lektüre eines der leidenschaftlichsten und aufregendsten Texte der Philosophie: Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Denn was Matthias Langhoff mit dieser Inszenierung versucht, ist unter anderem nicht weniger, als eben diesem Donnerkeil von Text eine mögliche Bühnengestalt zu geben: Mit der Wahl des Stückes erinnert er das Theater und, darüber hinaus, uns alle - "Europa" - an unsere geistig-politische Herkunft aus der griechischen Tragödie und der dort mit und vor dem Athener Polis-Pub
er Polis-Publikum exemplarisch verhandelten Mythologien; und indem Langhoff Tanz, Ekstase und eine rhythmisch-orgiastische Musik zur Achse und eigentlichen Seele dieses Stückes macht, erinnert er an den dionysischen Ursprung des Theaters, den Nietzsche mit so unübertreffbaren und ungebrochen aktueller Radikalität erkannt hatte. Diese Dimension der griechischen Tragödie hat zum Beispiel die als moderne Adaption unvergessliche Steinsche Orestie überhaupt nicht erfahrbar gemacht - hier hingegen ist das gelungen, "verleiht die Musik dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hülfe, nie zu erreichen vermögen; und insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten Lust, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche." (Nietzsche) Das Theater wird zur "Oper" erweitert."Worauf weist das ungeheure historische Bedürfnis der unbefriedigten modernen Cultur", um noch weiter Nietzsche zu zitieren, "das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses?" Heiner Müllers intensive Arbeit an der Wiederaneignung des griechischen Mythus entsprang eben dieser Einsicht, dass die Erinnerung an die Anfänge nicht preisgegeben werden dürfe. Und George Steiner hat vor einiger Zeit geschichtsphilosphisch begründet, warum das Projekt eines einigen Europa ohne die Rückbindung an dessen mythologische Ursprünge ein seelenloses Gebilde ohne die notwendige kulturell-politische Loyalität der Europäer nicht lebensfähig sein würde. Der amerikanische Dichter Ezra Pound, der zu den Größten dieses Jahrhunderts gezählt wird und dessen Cantos, die Steiner zu den "Meistertexten der Moderne" rechnet, wiederum griechische Mythologie variieren, hat sich in den Jahren seiner tiefsten Erniedrigung zur Rückgewinnung von Distanz und Perspektive Sophokles zugewandt und dessen selten gespielte Tragödie Die Frauen von Trachis bearbeitet. Pound hatte sich bekanntlich in den italienischen Faschismus verirrt, war zum Propagandisten Mussolinis, zum Antisemiten und lautstarken Gegner Roosevelts geworden, weshalb ihn die Amerikaner 1945 in Pisa nicht nur gefangensetzten, sondern ihn auch unter unwürdigen Verhältnissen in einen öffentlich zugänglichen Käfig sperrten. 1953 war dieser Pound-Text - eine umgangssprachliche Übertragung - erschienen und 1959 ins Deutsche übersetzt worden. Diese Fassung wiederum hat Thomas Brasch neu bearbeitet, weshalb die im DT zu besichtigende Inszenierung offiziell heißt: "Thomas Brasch - nach Ezra Pound" - "Die Trachinierinnen des Sophokles oder MACHT LIEBE TOD. Unter Verwendung der deutschen Übertragung von Eva Hesse" und als "Uraufführung" angekündigt wurde.Dass es um den Mythos und nicht um eine schnellschüssige Aktualisierung geht, darauf verweist bereits der Bühnenvorhang: Picassos Minotaurus (ein Abkomme der vom Stier-Jupiter entführten Europa) triumphiert über eine erbeutete Frau - und die Frauen sind die leidenden, unterdrückten, erniedrigten Protagonisten dieser Nacherzählung des antiken Stoffes: "wo Frauenglück und Frauenunglück beginnt und endet davon verhandelt dieses Stück". Wenn der Vorhang sich öffnet, befinden wir uns aber zunächst inmitten der brutalsten Erscheinungsform der Männer-Herrschaftswelt - dem Militärgefängnis: es sind die Käfige, in denen Pound gehalten worden war, und unter einem goldverhüllten Gefangenenkopf dürfen wir ihn wohl selbst vermuten; am Ende wird dieser Goldkopf der des sterbenden, fluchenden, sich durch seine brutalen und widerlich-rachsüchtigen Forderungen an seinen Sohn selbst verurteilende Herkules sein. Pounds Selbstkritik? Langhoffs Pound-Kritik? Gutes, ernsthaftes Theater gibt Fragen auf.Ehe die weibliche Hauptfigur, die verlassene Herkules-Gattin Deianeira auftritt und uns ihre Geschichte erzählt - "Der sich mein Mann und seiner Söhne Vater nennt / war nie ein Gatte und nur Zeuger seiner Kinder / ist einer den die Welt als einen Helden kennt / ein Städteschinder und ein Sohnerfinder / immer unterwegs zu dieser oder jener Aufgabe / Terror über Terror" - beginnt der Chor der Frauen sich zu formieren unter dem suggestiv-unwiderstehlichen Rhythmus afrikanischer Trommeln (Mustapha Cissé) und ihrem eigenen afrikanischen Gesang; später werden dieselben sechs Frauen (alle Ensemle-Mitglieder!) ihrerseits zu einer mit eindrucksvoll-mitreißender Präzision trommelnden Gruppe und stimulieren unter anderem Deianeira zu einem ekstatischen Tanz, der an Ausdruckskraft und rhythmischer Körperbeherrschung ein solches Maß von Authentizität und Intensität hatte, dass Dagmar Manzel dafür zurecht Szenenapplaus erhielt - wie sie überhaupt, ohne es auszuspielen, der Star des Abends ist, auch wenn die Kollektivität durch eine hervorragende und im deutschen, wie überhaupt im Sprechtheater ungewöhnliche, ja einmalige Choreographie (Irène Tassembedo) durchweg gewahrt bleibt. Dieser Ausgriff auf Afrikanisches ist dabei alles andere als eine inszenatorische Caprice von "multikulti", vielmehr der griechischen Tragödie ganz und gar adäquat: Die Wissenschaft ist seit einigen Jahren dabei, gerade die afrikanischen Wurzeln der griechischen Kultur zu entdecken, die eben keineswegs - wie es Nietzsche mit seiner Aufdeckung des Dionysischen scharfsinnig schon geahnt hatte - als apollolinische Klassik aus dem griechischen Haupte des Zeus entsprungen ist.Indem Sophokles/Pound/Brasch die Geschichte vom Ende des Herkules so erzählen, wie sie es tun - Herkules der brutale Schlächter, dessen hauptsächliche Opfer die Frauen sind - nehmen sie dieser Figur allen Anspruch eines bewunderten und nachahmenswerten Vorbildes. Ja, Herkules wird geradezu zum Negativhelden und steht für Gewalttätigkeit, männliche Arroganz, Liebesunfähigkeit, sexuelle Präpotenz, Rachsucht und rücksichtslose Ruhmgier. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür (und nicht der, der in der Regel angeführt wird: die Schwäche des Stückes liegt darin, dass sich die beiden Hauptfiguren nie gegenübertreten), warum diese Tragödie so besonders selten aufgeführt und folglich kaum bekannt ist. Denn Herkules - das macht bereits jede Schlossfassade oder der Bilderschmuck beliebiger europäischer Herrscherhäuser deutlich - war als Halbgott in ganz Europa das unbestrittene Symbol politischer Macht und Stärke, und selbst im populären, umgangssprachlichen Verständnis ist diese Figur, die Augiasställe ausmistet und "herkulische" Aufgaben erledigt, auch noch bei Unwissenden positiv besetzt. In diesem Versuch, die europäische Geschichte - oder jedenfalls eine keineswegs nebensächliche Spur dieser Geschichte - als eine schlimme, vom Mythos und in Sophokles' Lesart antizipierte Fehlentwicklung zu erkennen und selbstkritisch die eigene Schuldverstrickung zu reflektieren (die dann weit über die sehr extreme von Ezra Pound selbst hinausgeht und uns alle zur Rechenschaft zieht), darin dürfte das Motiv für jene erste Bearbeitung aber auch das von Brasch und Langhoff liegen, die "Trachinierinnen" heute und in dieser Form zur Diskussion zu stellen.Das verlangt aber dann eigene Mit- und Nacharbeit zum Stück. Der Theaterabend, das Theatererlebnis - und ein Erlebnis darf und muss Theater noch immer sein - ist nicht durchgängig auf dem in großen Momenten erreichten hohen rhythmisch-szenischen Niveau. Insbesondere das letzte, dem sich im Nessushemd windenden Herkules gewidmete Drittel will nicht mehr gelingen - vom Bühnenbild einer merkwürdigen Dachlandschaft im Schneegebirge angefangen bis zum Hin- und Herspringen der Figuren, die jene großartige Choreographie vermissen lassen, mit der uns der erste Teil verwöhnt hatte: Indem Langhoff hier weitgehend auf die Musik verzichtet, wird deutlich, wie sehr dieses Stück von seinem die Sinne unmittelbar ansprechenden und zum Schwingen bringenden Rhythmus gelebt hatte und es nun nahezu abstürzte. Und plötzlich stellt sich dann die Frage, ob und was wir denn an diesem Abend und auf dieser Bühne wirklich über Macht, Liebe und Tod gelernt und erfahren haben. Aber dafür gibt es dann eben "den Tag danach" - und für den sind wir selbst verantwortlich.
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