Die Ukraine geizt nicht mit hochkarätigen Autoren – die mittlerweile gar nicht mehr so jungen „Nachwuchstalente“ Serhij Zhadan (37 Jahre) und Ljubko Deresch (27 Jahre) beweisen es. Doch der 1960 geborene Juri Andruchowytsch dürfte derzeit der international bekannteste Schriftsteller des Landes sein. Wie die anderen beiden ist auch er bei Suhrkamp unter Vertrag, und der jetzt auf Deutsch erschienene opulente Roman Perversion ist eines seiner wichtigsten Bücher. Im Original ist es schon vor 16 Jahren herausgekommen, was man der schillernden Fiktion anmerkt. Perversion ist ein postmodernes Feuerwerk ganz im Stil der neunziger Jahre, mit Elementen des magischen Realismus, einer mäandernden Handlung, unterschiedlichen Textarten, sprachlichen Experimen
prachlichen Experimenten, jeder Menge Sex und einem breiten Tableau überzeichneter Figuren.Im Zentrum steht Stanislaus Perfezki, ein ukrainischer Dichter, der zum Symposium „Postkarnevalistischer Irrsinn der Welt – Was dräut am Horizont?“ nach Venedig fährt. Dort kommen gut 300 Exzentriker aus aller Welt zusammen, um sich Vorträge anzuhören, eine Oper wird inszeniert und der harte Kern der Kongressbesucher verwandelt sich am Ende während einer wilden Orgie in einen Haufen Blut trinkender und Feuersäulen schleudernder Dämonen. Juri Andruchowytsch geht in Perversion wirklich in die Vollen. Das Prinzip der dramaturgischen Eskalation kennt man auch schon von seinem jüngeren Roman Zwölf Ringe, wobei es in Perversion noch greller und psychedelischer zugeht.Die Steigerung des Titel gebenden „postkarnevalistischen Irrsinns“ mit fortlaufender Handlung bettet Juri Andruchowytsch in eine komplexe Struktur verschiedener Erzählstimmen und Textfragmente ein. Stanislaus Perfezki kommt selbst zu Wort, unter anderem auch mit seinem chaotischen Vortrag über die als provinziell gescholtene Ukraine und über ein geheimnisvolles Manuskript mit dem Titel Weltendämmerung. Seine Geliebte, Ada Citrina, ebenso wie deren Ehemann, der Urologe Janus Maria Riesenböck, sind Teil einer nicht näher bestimmbaren Verschwörergruppe, die Stanislaus Perfezki überwacht und Berichte über seinen Aufenthalt in Venedig an einen ominösen „Monsignore“ verfasst. Dann ereifert sich da noch in einem fort die amerikanische Radikalfeministin Lisa Sheila, die Andruchowytsch recht hilflos als aggressive Hysterikerin und Männerfeindin überzeichnet.Wilde erotische NächteDaneben gibt es noch einen altehrwürdigen, venezianischen Vorsitzenden des Symposiums und zahlreiche Hostessen, die von einem Moment zum anderen Aussehen, Kleidung und Geschlecht verändern. Da der Roman quasi als Untersuchung des rätselhaften Verschwindens von Stanislaus Perfezki angelegt ist, finden sich auch einige Zeugenberichte verschiedener Kongressteilnehmer, um das Geschehen in Venedig zu rekonstruieren. Programmhefte des auf 1993 datierten Kongresses inklusive Abschlussmemorandum gehören ebenso zur Textsammlung wie ein Testament Perfezkis und die geheimnisvollen Berichte der Verschwörer, die den ukrainischen Dichter nachts durchs neblige Venedig verfolgen – wenn nicht die Top-Agentin Ada Citrina wilde erotische Nächte mit ihm verbringt.Hinter jeder barocken Windung dieses Romans – egal, ob es um die zahlreichen Figuren, die in alle Richtungen ausufernde Handlung oder diverse, zum Teil märchenhaft-pompöse Orte geht – scheint immer ein tiefer liegendes Geheimnis zu stecken, das aber natürlich niemals aufgelöst wird. Perversion wird so zum satirischen Rätselspiel, das sich labyrinthisch um sich selbst dreht – eine Art literarisches Perpetuum mobile, das mit dem Selbstmord des Protagonisten endet. Ob der sagenumwobene Stanislaus Perfezki aber am Ende wirklich stirbt? Auch das bleibt fraglich.Stilistisch und dramaturgisch mutet das alles an wie eine Mischung aus David Foster Wallace und Michail Bulgakow, nicht zuletzt weil sich Venedig als ein beliebtes Einsatzgebiet für diabolische Mächte erweist, ähnlich wie Moskau in Bulgakows Der Meister und Margarita. Weitere intertextuelle Verweise, unter anderem auf Orpheus oder Thomas Manns Tod in Venedig, gibt es zuhauf. Die ominöse Vorsilbe „post“ taucht in dem Roman allenthalben auf, so wie sie in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ihren inflationären Gebrauch erlebte. Aus heutiger Sicht wirkt dieses hedonistische Stück postmoderner Literatur aber fast schon ein wenig altbacken.Semi-fiktives VerwirrspielDas Buch erscheint hier deshalb so spät, weil Juri Andruchowytsch, ebenso wie die beiden anderen Mitglieder des ukrainischen Autoren-Triumvirats Serhij Zhadan und Ljubko Deresch, erst vor ein paar Jahren für den deutschen Buchmarkt entdeckt wurden. Juri Andruchowytsch erregte 2004 erst als Essayist mit der Textsammlung Mein Europa Aufmerksamkeit, seine Karriere hatte er wie Serhij Zhadan als Lyriker begonnen.Getreu seiner Devise, das Werk eines Autors in Gänze anzubieten, arbeitet der Suhrkamp-Verlag jetzt auch ältere Titel von Juri Andruchowytsch ab. Dieses Prozedere von Suhrkamp ist zwar in jedem Fall zu begrüßen, nur wirkt Andruchowytschs Roman Perversion im Gegensatz zu Zhadans jüngstem Erzählband Big Mäc etwas angestaubt. Immerhin ist sein letzter, auch schon vor vier Jahren im Original erschienener Roman Geheimnis, ein semi-fiktives, autobiografisches Verwirrspiel, bereits ins Deutsche übersetzt worden. Die späte Entdeckung Andruchowytschs im deutschsprachigen Raum ist auch deswegen schade, weil im Gegensatz dazu beispielsweise die US-amerikanische Gegenwartsliteratur immer sehr zeitnah übersetzt erscheint – egal, ob Denis Johnsons Vietnam-Opus Ein gerader Rauch als Allegorie auf das heutige Amerika, oder Jonathan Lethems Chronic City, ein Abgesang auf New Yorks künstlerische Freiräume.Der „neue alte Andruchowytsch“ ist großartig und ein fesselndes Leseabenteuer. Keine Frage. Nur was der 1960 geborene Autor aktuell zu sagen hätte, wäre ebenfalls von großem Interesse. Es bleibt zu hoffen, dass der Suhrkamp-Verlag diesem Ausnahmeschriftsteller so treu bleibt wie bisher.