Es ist noch nicht gar so lange her, da galt China als Wunschpartner. Schwierig zwar, aber unverzichtbar. Kanzlerin Merkel setzte auf deutsch-chinesische Regierungskonsultationen, sie plante einen EU-China-Gipfel in Leipzig und trieb ein Investitionsabkommen voran. Als die Übereinkunft unter deutschem EU-Vorsitz Ende Dezember 2020 besiegelt wurde, galt sie als Meilenstein. Ein knappes halbes Jahr später ist davon nichts mehr übrig. Der Gipfel in Leipzig wurde abgeblasen, der Investitionsvertrag ist geplatzt. Statt auf China setzt die EU nun auf Indien, das mit einem Freihandelsabkommen zum Gegengewicht in Asien aufgebaut werden soll. Ein Konnektivitäts-Programm soll die neue Seidenstraße konterkarieren, die von China nach Europa führt.
Eine derartige EU-Doktrin
U-Doktrin fügt sich nahtlos in eine Strategie der Eindämmung, wie sie die G7-Staaten verkündet haben. Man wolle die Menschenrechte nutzen, um China in die Schranken zu weisen, erklärte Außenminister Heiko Maas nach dem jüngsten G7-Treffen in London. Gemeinsam werde man mehr erreichen, fügte er hinzu. Deshalb wollten die EU und die USA künftig den Schulterschluss üben. Doch geht es wirklich um Menschenrechte? Und verspricht es tatsächlich mehr Erfolg, wenn Brüssel und Washington an einem Strang ziehen? Die Erfahrungen der vergangenen Monate lassen daran zweifeln. Sie sind ein Lehrstück über eine EU-Außenpolitik, die sich auf Werte und Prinzipien beruft, am Ende aber für geopolitische Machtspiele instrumentalisieren lässt.Begonnen hat es mit dem europäischen Magnitsky-Act, den neuen Menschenrechtssanktionen, die seit Anfang 2021 in Kraft sind. Sie folgen dem US-amerikanischen Beispiel und sollen es der EU ermöglichen, Verstöße gegen die Menschenrechte individuell zu ahnden, ohne gleich die ganz große Keule gegen Staaten zu schwingen. Das klingt gut, hatte im Fall Chinas aber unerwünschte Folgen. Gleich die erste Strafaktion wurde zum Bumerang. Sie richtete sich gegen mutmaßliche Drahtzieher der Repression gegen die Uiguren in der Provinz Xinjiang. Doch China hat zurückgeschlagen. Dessen Regierung beschränkte sich nicht darauf, gleichwertige Sanktionen gegen die EU zu verhängen, wie üblich. Nein, Peking belegte auch deutsche Forscher und Europaabgeordnete mit Strafen. Seither weigert sich das Europaparlament, über das Investitionsabkommen mit China zu sprechen. Der Deal liegt auf Eis, Merkel und die ihr verbundene deutsche Wirtschaft haben eine schwere Niederlage erlitten.Den Uiguren ist damit freilich nicht geholfen, die europäischen Sanktionen haben ihre Lage nicht verbessert. Ein klassischer Fall von Gesinnungsethik, würde Max Weber sagen. Die Europäer haben das Gute gewollt, die Risiken und Nebenwirkungen aber ignoriert. Doch in Brüssel beginnt man dadurch nicht etwa, den Menschenrechtskurs infrage zu stellen und die Sanktionen neu zu justieren. Nein, vielmehr wird der Ruf nach noch härteren Strafen laut – und nach einem noch engeren Schulterschluss mit den USA.Vor allem die transatlantische Community macht Druck. Schon beim Abschluss des Investitionsabkommens hatten deren Parteigänger gewarnt, damit falle die EU dem neu gewählten US-Präsidenten Joe Biden in den Rücken. Nun liefert ihnen der Sanktionskrieg zwischen Brüssel und Peking neue Munition. Diesen Konflikt könne man nur gemeinsam mit Washington bestehen, heißt es.Rückendeckung bekommen die außenpolitischen Falken von der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. „Sie liegt auf einer Wellenlänge mit Biden“, freute sich der Atlantic Council nach einer Rede Baerbocks beim EU-US-Future-Forum. Dort hatte sie die Lage in Xinjiang angesprochen und einen härteren Kurs verlangt, der sich noch stärker an Menschenrechten orientieren soll. Allerdings zählen in der Außenpolitik nicht nur Werte, sondern auch – und vor allem – Interessen. Und die haben sich nicht verändert. Für Deutschland ist China immer noch der wichtigste Handelspartner. Und die Europäische Union wird auch künftig auf Produkte made in China angewiesen sein. Seit der Corona-Pandemie hat sich die Abhängigkeit eher noch verstärkt, wie das Debakel um die Schutzmasken zeigte.Deutschland und die EU müssen sich daher um einen Ausgleich zwischen Werten und Interessen bemühen – also klassische Realpolitik betreiben. Nach Lage der Dinge kann die sich nicht an den USA ausrichten, wie es die Transatlantiker fordern. Schon gar nicht darf sie die Menschenrechte für eine neue westliche Eindämmungspolitik instrumentalisieren, wie es die G7 planen. Stattdessen gilt es, der Komplexität der Beziehung gerecht zu werden. China ist „Partner, Konkurrent und systemischer Rivale“, heißt es in Brüssel. Deutschland und die EU sollten versuchen, allen drei Dimensionen gerecht zu werden. Und sie sollten der Versuchung widerstehen, nur noch den Rivalen zu sehen und sich in einen Systemkonflikt ziehen zu lassen. Dabei kann es nur Verlierer geben.Das Lehrstück um das gescheiterte Investitionsabkommen sollte eine Warnung sein – nicht nur für Merkel, auch für Maas und Baerbock. Sie dürfen sich nicht von Biden treiben lassen, sondern müssen einen eigenständigen, europäischen Kurs verfolgen. Das Ziel sollte mehr Autonomie sein, sowohl von China als auch von den USA, nicht eine neue Blockbildung.