Speed Reading Kurse und Lernbücher für die schnelle, effiziente Lektüre werden immer beliebter. Dem Erfahrungswert und der Sinnlichkeit von Büchern können sie nicht gerecht werden
Glaubt man den Zahlen zur Entwicklung der deutschen Lesestatistik, müssen sich Dichter und Philologen keine Sorgen um die Zukunft machen: Nie wurde so viel gelesen wie heute, die Zahl der verkauften Bücher steigt stetig. Skeptische Diagnosen, denen zufolge sich in weiten Teilen der Bevölkerung ein sogenanter sekundärer Analphabetismus bemerkbar mache und immer weniger Menschen infolge dieses Mangels an Lesepraxis in der Lage seien, sprachliche Sinnzusammenhänge nachzuvollziehen, werden unter Verweis auf die Beliebtheit des Lesens entsprechend regelmäßig als kulturpessimistisch abgewiesen. Oftmals außen vor bleibt allerdings die Frage, welche Formen des Lesens denn gegenwärtig überhaupt eine Renaissance erleben und welche Ursachen der Lese-H
e-Hype hat, den die Verlagsbranche und der Wissenschaftsbetrieb so vehement fördern. Eine Antwort darauf könnte ein Phänomen bieten, das trotz seiner ständigen Präsenz in der Werbung kaum öffentliche Beachtung findet: das sogenannte Speed Reading, das Coaching-Agenturen auf einem expandierenden Markt als Serviceleistung für Unternehmen, Fortbildungsorganisationen, aber auch für interessierten Einzelpersonen anbieten.Was Speed Reading ist und welche Bedürfnisse es anspricht, läßt sich an den Angeboten zweier in Deutschland marktführender Dienstleister auf diesem Gebiet illustrieren. Die in München ansässige Ritter Speed Reading Agentur, die von Jonas Ritter, einem Lernforscher und Referenten des Max-Planck-Instituts, geleitet wird, veranstaltet neben kostenlosen Online-Lesekursen Wochenendseminare für Unternehmen und Privatpersonen. Für Studenten, die zum wichtigsten Adressatenkreis dieser Schnell-Lese-Kurse gehören, gibt es kostengünstige Sonderangebote. Zu den Unterstützern der Agentur gehören neben Unternehmensberatern und Wirtschaftsinstituten wissenschaftliche Einrichtungen wie das Max-Planck-Institut, das Fraunhofer Institut sowie die Ludwig-Maximilians-Universität München. Ein nicht unerheblicher Teil der Kunden besteht aus Schülern und Studenten, die durch Speed Reading ihre als Karrierehindernis aufgefaßten „Lesehemmungen“ abbauen wollen. Erklärtes Ziel ist dabei nicht nur der Wunsch, ein oft immensens Lesepensum in kürzerer Zeit zu bewältigen, sondern vor allem die Hoffnung, durch effiziente Lesetechniken besser „verstehen“ zu können. Richtiges Verstehen wird dabei vor allem als ein Ergebnis von Lesekompetenz und Merkfähigkeit angesehen, und weniger als intellektuelle Leistung. Das Angebot von Speed Reading-Agenturen lockt denn auch mit einer Kombination aus Lese- und Gedächtnistraining. „Schneller lesen – alles behalten“ lautet zum Beispiel der Slogan von Ritter Speed Reading aus München.Erfolge in Stern-TV vorgeführtAuch die im Taunus ansässige Improved Reading Agentur, die von dem Lesetrainer Wolfgang Schmitz geleitet wird, bietet deutschlandweit Schnell-Lese-Kurse an, die je nach Adressatenkreis als Crashkurse, Uni- oder Businesskurse ausgewiesen sind. Ihre Arbeit wird von Wirtschaftsinstituten und akademischen Einrichtungen gefördert, unter anderem von der Freien Universität Berlin, wo der Kommunikationswissenschaftler Bernd Sösemann, der die Arbeitsstelle für interkulturelle Publizistik leitet, im Rahmen eines „Pro Read“-Projekts mit Improved Reading kooperiert. Die Seminare beider Agenturen sind frühzeitig ausgebucht, auch medial sind die Anbieter stets präsent: Schmitz konnte die Erfolge seiner Testpersonen zum Beispiel schon vor einigen Jahren in „Stern TV“ Hellmuth Karasek vorführen.Flankiert wird der Siegeszug von Speed Reading durch eine Flut von Lesehilfebüchern, die zunehmend wahllos auf den Markt geworfen werden. Zu den bekanntesten zählen der Ratgeber Speed Reading des britischen „Mentaltrainers“ Tony Buzan und die populärwissenschaftliche Studie PhotoReading, in der Trainer Paul Scheele eine „Hochgeschwindigkeitsmethode“ für Schnell-Leser vorstellt. Spätestens seit die angloamerikanische Speed Reading-Literatur um die Jahrtausendwende auch ins Deutsche übersetzt wurde, floriert auch in der Bundesrepublik der Schnell-Lese-Markt.Lesewut knüpft BeziehungenDass Speed Reading nicht einfach als pragmatische Lernhilfe beworben wird, sondern Lesen als Sportart begreift, in der es um Training, Fitness und Rekorde geht, ist kein bloßer Reklametrick, sondern führt in den Kern der Sache. Der demokratische Anspruch, mit dem die Speed Reading-Agenturen antreten, mag zunächst darüber hinwegtäuschen. Mutet es doch sympathisch an, wenn Jonas Ritter im Einklang mit der einschlägigen Ratgeberliteratur und in offenem Widerspruch zur Neurophilosophie-Mode betont, daß Lesekompetenz und Konzentrationsfähigkeit weder genetisch noch neuronal festgelegt, sondern „erlernbar“ seien. Ein Teil des Erfolgs, den Speed Reading-Seminare bei Schülern und Studenten verbuchen, dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie dem Lesen seinen bildungsbürgerlichen Nimbus nehmen und es als mentales Handwerk verstehen, das sich jeder, unabhängig von Herkunft, Alter und Geschlecht, mit etwas Mühe und Geduld aneignen kann. Gerade diesen Anspruch aber verraten Speed Reading-Propagandisten, indem sie den Vorgang des Lesens mit pseudowissenschaftlichen Methoden quantifizieren und ihm seinen individuellen Erfahrungsgehalt rauben.Die Kategorie der Erfahrung aber spielt schon in den frühen Studien zur Leseforschung, die sich durch Walter Benjamins Beschreibungen kindlichen Lesens anregen ließen, eine entscheidende Rolle. Vor allem psychoanalytische Untersuchungen betonen, dass Lesekompetenz die Entwicklung emphatischer Leseerfahrungen immer schon voraussetzt. Leseerfahrungen sind demnach nichts, was den Individuen nach Erwerb ihrer Lesekompetenz als Dreingabe zufällt. Sie sind notwendige Bedingung für die Entwicklung differenzierter Lektürefähigkeit. Wenn Jungen und Mädchen in den Jahren ihrer kindlichen Lesewut Bücher verschlingen, die sie eigentlich noch gar nicht verstehen können, ist dies nicht einfach ein Defizit, das sich durch Entwicklung einer abfragbaren „Kompetenz“ korrigieren ließe, sondern ein produktives Verhalten. Die Lesewut ermöglicht, gerade, weil sie sich noch nicht um korrektes Textverständnis schert, den Aufbau eines Bezugs nicht nur zum Text, sondern auch zum Buch als einem sinnlich erfahrbaren Gegenstand, und ist Bedingung jeder Lesefähigkeit, die über das stupide Einlesen von Wortreihungen hinausgeht.Gerade als ein solches Einlesen aber versteht und trainiert man den Lesevorgang im Speed Reading: Gelesene Wörter werden pro Minute gezählt, die Steigerung der „Wortfrequenz“ geübt und „Erfassungsquoten“ gemessen. So kehren Techniken aus einer Zeit, die keine entwickelte Schriftsprache kannte und sich daher mit anderen Formen der Erinnerung begnügen mußte, in eine hochentwickelten Schriftkultur zurück, die mit den Errungenschaften ihrer Zivilisation immer weniger anfangen kann, ja sie sogar als nutzlosen Unrat verachten gelernt hat. In gewisser Weise geht diese Reduktion des Lesens aber auch mit einer Rückkehr zu antiken Mnemotechniken einher, die Erinnerung als Körpertechnik praktiziert haben, indem Tatsachen, Ereignisse und Erfahrungen an das Bild bestimmter Orte gebunden und durch deren Vergegenwärtigung abrufbar gemacht wurden. Analog dazu wird im Speed Reading der Sinngehalt von Texten nicht als Erfahrung begriffen – als etwas, das vom Leser nachvollzogen werden muß –, sondern als lokalisierbares und quantifizierbares Wissen. Der Vorgang des Verstehens reduziert sich auf ein geschicktes, zeitsparendes Abspeichern dieses Wissens. Der Leser wird zu einer Art humanoidem Scanner – erfahrungslos, urteilslos, ohne Subjektivität.
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