Chinesische Lösung

Kommentar Olympia 2008

Peking im Sommer 1993: Vor meinem Fenster auf dem Campus des Sprachinstituts immer wieder dasselbe Bild, dieselben Laute, pünktlich ab neun Uhr. Eine Gruppe "Junger Pioniere" marschiert im Karree, kommandiert von einer Leiterin mit kurzen Beinen und kräftiger Stimme: "Eins, zwei, drei vier; eins, zwei, drei, vier..." Mehr verstehe ich nicht, bis die Knirpse beim englischen Teil der Marschübung angekommen sind und sich ihre Begeisterung für die Olympiabewerbung Pekings aus dem Leibe brüllen. Das wirkt so überzeugend wie der gestolperte Gleichschritt in Viererreihe. Nur ein kleiner Dicker am Ende des Zuges scheint ganz bei sich zu sein - schweigend und ohne einen Versuch, den Rhythmus seiner Vorderleute aufzunehmen. Ein künftiger Dissident? Wohl kaum. Eher ein Exemplar jener verwöhnten Gören, wie sie die Ein-Kind-Familienpolitik hervorbringt.

Das morgendliche Schauspiel traf die Stimmung in der Stadt. Chinas Partei- und Staatsführung hatte - vier Jahre nach dem "Himmlischen Frieden" - ihr ganzes Prestige auf die Waagschale der Olympiabewerbung geworfen. Man gab sich arrogant-siegessicher. Niederlage ausgeschlossen. Den Leuten auf der Straße ging die Sache weniger nahe. Eine Kampagne von oben, nicht mehr und nicht weniger. Die hatte gerade ihren Höhepunkt erreicht, als sich der Balkon von einem der neuen Prestigebauten löste und mehrere Passanten unter sich begrub. Alles Einheimische, kein Ausländer darunter - also: kurze Meldung und schnell wieder zur Tagesordnung. Das Ende ist bekannt: Peking verlor die Bewerbung, Sydney kaufte die Spiele und erwies sich als glänzender Gastgeber.

Acht Jahre später - Peking soll nicht wiederzuerkennen sein - hat es geklappt. 2008 trifft sich die "Jugend der Welt" zum sportlich-"fairen" Kräftemessen in der chinesischen Hauptstadt. Die Funktionäre strahlen, das Volk ist begeistert, die Wirtschaft jubelt, Ex-IOC-Chef Juan Antonio Samaranch durfte zufrieden abtreten - und Moskau rechnet sich gute Chancen für 2012 aus. Leipzig auch. Alle scheinen zufrieden. Nur die globale Menschenrechtsgilde reagiert entsetzt. Zu Recht, denn als Hort der Humanität hätte Peking die Spiele nicht verdient. Das kann man übrigens auch sagen, ohne den schrägen Vergleich mit 1936 zu ziehen. Allein: Die Olympiade ist kein Menschenrechtspreis. Los Angeles und Salt Lake City durften Gastgeber sein, trotz Todesstrafe. Nüchtern betrachtet bleibt also die Frage: Fahren die Menschen und ihre Rechte in China besser mit oder ohne die Spiele? Schlimmstenfalls ist die Antwort irrelevant. Bestenfalls fühlt sich Peking beobachtet und lockert die Zügel. Und wenn alle Stricke reißen, bleibt immer noch der Boykott.

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