Aufruf Noam Chomsky, Yanis Varoufakis, Carola Rackete und viele andere Intellektuelle, Aktivisten und Künstler gründen die „Progressive Internationale“. Hier erklären sie warum
Eine neue Solidaritätsbewegung entsteht. Von Los Angeles bis São Paulo, von Minneapolis bis London ist „Black Lives Matter“ ein Schrei und eine Forderung, die in der ganzen Welt gehört wird. Die Botschaft dieser Bewegung ist denkbar einfach: Hört auf damit, Menschen mit schwarzer Hautfarbe zu töten — in ihren Häusern, auf den Straßen und auf der Flucht über das Meer zu sicheren Ufern. In ihrer Schlichtheit enthält die Botschaft jedoch den Keim einer radikalen Veränderung unseres internationalen Systems: ihre Wut richtet sich gegen eine Maschine rassistischer Enteignung, um überall Raum für kollektive Befreiung zu schaffen.
Im letzten Jahrzehnt hat es eine Kehrtwende in zwei besorgniserregende Richtungen gegeben: E
niserregende Richtungen gegeben: Einschließen und Durchgreifen. Eine neue autoritäre Allianz hat die internationale Zusammenarbeit zugunsten des Nationalstaats und seiner alten Mythen von Blut und Boden aufgegeben. Eine neue Serie von Überwachungstechnologien hat die staatliche Kontrolle über ganze Gesellschaften enger gespannt und militarisiert. Darüber hinaus hat uns der Ausbruch der Covid-19-Pandemie weiter in die Isolation gedrängt und — in einigen Fällen — die Bedrohung durch einen permanenten Ausnahmezustand und das damit verbundene Kriegsrecht verschärft.Protestbewegungen auf der ganzen Welt lehnen sich dagegen auf. In den Straßen von Santiago demonstrierten junge Chilen*innen gegen die weit verbreitete Armut, Prekarität und Polizeigewalt. In ganz Indien setzten sich Millionen von Aktivist*innen gegen den Rassismus und die anti-muslimische Gewalt der Modi-Regierung zur Wehr. Und im Libanon haben sich die Demonstrierenden dem Lockdown widersetzt, um ihr Grundrecht auf Nahrung, Wasser, Gesundheitsversorgung und Bildung einzufordern.Unter diesen globalen Bedingungen sind in den Vereinigten Staaten Proteste ausgebrochen. Nichtsdestotrotz haben diese Proteste etwas Außergewöhnliches an sich — und sei es nur, dass sie einen tiefen Riss in der Idee des „American Exceptionalism“ offenbaren. Wir können diese spezielle Heuchelei des US-Hegemon nicht ignorieren, wenn er vor der Welt mit seinen „Missions accomplished“ und Befreiungen prahlt, während er die schwarze, braune und einheimische Bevölkerung im eigenen Land unterdrückt. Und dabei sollten wir nicht übersehen, dass diese Proteste eine politische Öffnung geschaffen haben, um mit dieser Hegemonialmacht zu brechen und auf eine entkolonialisierte und multipolare Welt hinzuarbeiten.Mehr als ein SloganEine politische Öffnung ist jedoch nur das — sie bietet keine Gewissheit. Die Bilder, die aus diesen internationalen Protesten hervorgehen, sind die eines Systems, das sich an einer Bruchstelle befindet. Aber es gibt keine Garantie dafür, in welche Richtung es brechen wird. Es wäre ein schwerer Fehler, die reaktionären Kräfte und ihre Fähigkeit zu unterschätzen, diese Gelegenheit zu nutzen, um ihre repressive Vision von „LAW & ORDER“ umzusetzen, wie Präsident Trump so lapidar twitterte.Jetzt wie zuvor besteht unsere Herausforderung darin, uns zu organisieren und diese spontanen Solidaritätsbekundungen in eine dauerhafte internationale Bewegung zu verwandeln, um die Institutionen rassistischer staatlicher Gewalt abzubauen und die Menschenrechtsverletzungen durch die US-Polizei, ihr Gefängnissystem und insbesondere das Militär zu untersuchen.Deshalb haben wir die Progressive Internationale gegründet: um Solidarität zu mehr als einem Slogan zu machen. Protestmärsche in Städten wie Auckland und Amsterdam haben ein wichtiges Signal an die US-Regierung gesendet: die Welt schaut zu. Aber das reicht nicht aus. Wir wollen zeigen, wie Solidarität Grenzen überwinden kann, um Menschen, die an tausenden Orten weltweit unfaire Kämpfe austragen, ganz praktisch zu unterstützen.Das bedeutet, im Kampf gegen staatliche Gewalt voneinander zu lernen, wie im Falle der libanesischen Aktivist*innen, die eine Anleitung für Demonstrierende in den USA zusammengestellt haben. Es bedeutet, nach Möglichkeit Ressourcen bereitzustellen, um die Opfer von Polizeigewalt und ihre Familien zu unterstützen. Und es bedeutet auch, dass wir unsere jeweilige Rolle in diesem internationalen System — wo auch immer wir leben mögen — identifizieren und in unseren eigenen Gemeinden für Gerechtigkeit sorgen.Rassistische Strukturen offenlegenNicht jede Art von Solidarität ist gleich. Viel zu oft dienen Äußerungen der Empörung über das, was „dort drüben“ geschieht, nur als Deckmantel, um die rituelle Gewalt, die genau hier stattfindet, zu ignorieren, abzutun oder anderweitig zu relativieren. Europäer*innen, die mit der Forderung auf die Straße gehen, der Polizei in Minneapolis die Finanzierung zu entziehen, könnten von ihren eigenen Regierungen genau dasselbe für Frontex verlangen — die EU-Grenzbehörde, die für illegale Festnahmen und Abschiebungen im Mittelmeer verantwortlich ist.Das Gleiche gilt in umgekehrter Richtung. Die Ausdehnung des US-Imperiums durch die unbegrenzte Finanzierung seines militärisch-industriellen Komplexes ist, wie ein Boomerang, in das Land selbst zurückgekehrt. Die lokalen Polizeikräfte wurden mit der gleichen Ausrüstung bewaffnet, die die USA in ihren endlosen Kriegen in Übersee eingesetzt hat. Wenn die Proteste in den Vereinigten Staaten ein neues Gefühl der Solidarität unter ihren Bürger*innen hervorrufen sollen, dann muss diese für alle Bevölkerungsgruppen gelten, die unter der imperialen Aggression der USA und der anhaltenden Besatzung gelitten haben — insbesondere die einheimische Bevölkerung, auf deren Enteignung die Nation selbst gegründet wurde.Die Infrastruktur der rassistischen Polizeiarbeit ist bereits international. Die US-Strafverfolgungsbehörden werden vom israelischen Militär ausgebildet. US-Waffenproduzenten beliefern Polizeikräfte in ganz Brasilien. US-Konzerne statten die indische Regierung mit Überwachungstechnologie aus. Und amerikanische Methoden des „Stop-and-Frisk“ in Vierteln, in denen vorwiegend Minderheiten leben, werden in die ganze Welt exportiert.Die Aufgabe unserer Progressiven Internationalen besteht darin, eine Bestandsaufnahme dieser internationalen Infrastruktur zu machen — auf Aktivist*innen und Organisator*innen zu hören, die ihr Leben diesem Kampf gewidmet haben — und mit ihnen zusammenzuarbeiten, um diese aufzulösen: Stein für Stein, Dollar für Dollar, Polizeirevier für Polizeirevier.Unterzeichner*innenNoam ChomskyHilda HeineEce TemelkuranGael García BernalÁurea CarolinaCelso AmorimRenata AvilaSrecko HorvatCarola RacketeYanis VaroufakisJohn McDonnellAndres ArauzAlicia CastroDavid AdlerAruna RoyNikhil DeyErtuğrul KürkçüNick Estes Paola VegaScott LudlamElizabeth Gómez Alcorta
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