Um zu verstehen, warum die Selbstanzeigen bei den Steuerbehörden in Deutschland im Januar 2014 um 30 Prozent oder teils auch mehr gestiegen sind und warum sie zu Jahresbeginn zum Ritual der Superreichen geworden sind, lohnt es sich, die uralte Menschheitsfrage von Schuld und Sühne aufzurollen. In seinem – zumindest in der alten Übersetzung ins Deutsche – gleichnamigen Roman lässt Fjodor Dostojewski den Helden Raskolnikow argumentieren, dass sich die Menschheit in „außergewöhnliche“ und „gewöhnliche Menschen“ unterteilt. Für Raskolnikow stellt die Welt ein unvollkommenes Konstrukt dar. Er ist der festen Überzeugung, dass der „außergewöhnliche Mensch“ die moralische Pflicht habe, die „
222;gewöhnlichen Menschen“ für seine Ziele zu benutzen – und dafür ist jedes Mittel Recht.Sein Weltbild ist heute nach wie vor bei Wirtschaftskriminellen aktuell. Sie verstehen die Schuld nicht nur als Kavaliersdelikt, sondern als Beweis ihrer besonderen Gerissenheit und Vollkommenheit. Ein Weltbild, in dem Sühne nicht vorgesehen ist, da sich manche Superreichen qua eigener Philosophie nicht nur jenseits der Gesetze bewegen dürfen, sondern es sogar müssen, um ihre Geschäftsmodelle am Laufen zu halten. Die allgemeine juristische Konvention von Schuld und Sühne ist in ihrer Weltsicht aufgelöst.Das Alte vergessenZuweilen heben Staaten selbst die Regeln von Verbrechen und Strafe auf: zu Weihnachten, Geburtstagen von Machthabern oder zum Jahresbeginn ist die Amnestie ein beliebtes Symbol. Das Alte soll vergessen, das Neue besser werden. Kein Wunder also, dass Vladimir Putin zur Jahreswende die Pussy-Riot-Sängerinnen, die Greenpeace-Aktivisten und Michail Chodorkowski auf freien Fuß gesetzt hat. Ein Akt, der zwar die Strafe im Gefängnis beendet, nicht aber die juristische Schuld auflöst.Ein Herrscher signalisiert Milde und hofft auf Dankbarkeit der Bevölkerung und der Schuldigen. Man spricht von Konsolidierungsamnestie, wenn der Machthaber die Schwächung seiner Gegner durch gute Taten anstrebt. Das Prinzip der Selbstanzeige folgt einem ähnlichen Mechanismus: Der Staat gibt Steuersündern die Möglichkeit, ihre Verbrechen zu offenbaren, die Schulden zu begleichen und so ohne Strafe zu bleiben. Er hofft auf zusätzliche Steuereinnahmen, mehr Gerechtigkeit und die Wiederherstellung des gesellschaftlichen Gleichgewichts durch Milde – also auf Konsolidierung per Amnestie.Der Unterschied ist aber, dass Steuersünder nicht gegen undemokratische Mechanismen kämpfen, sondern gegen ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen. Sie sind in der Regel größere oder kleinere Raskolnikows und glauben, qua Reichtum jenseits der Ordnung von Recht und Gerechtigkeit zu stehen. Sie bewegen sich in einem Kosmos außerhalb der nationalen Gerichtsbarkeit, zocken abseits geltender Gesetze und Normen und verstehen das Börsenparkett als legitime Norm ihres Handelns. Das zeigt auch der Fall Uli Hoeneß: Ein Fußball-Manager und erfolgreicher Wurst-Fabrikant parkt angeblich Millionen in einem Steuerparadies – Peanuts für den „außergewöhnlichen Menschen“, eine unvorstellbar hohe Summe für alle anderen „gewöhnlichen Menschen“.Hoeneß’ Sühne-Zeit hat allerdings lange vor dem nun anstehenden Gerichtsverfahren begonnen. Neben einer drohenden Gefängnisstrafe besteht seine Bestrafung vor allem in der öffentliche Demontage des moralischen Saubermanns. Nicht einmal beim größten sportlichen Erfolg seiner Mannschaft, dem Triple-Gewinn 2013, durfte er öffentlich jubeln. Er wurde aus der Welt der gewöhnlichen Menschen ausgeschlossen und muss erkennen, dass sich das auf Dauer nicht einmal ein „außergewöhnlicher Mensch“ leisten kann. Die Strafe des Liebesentzuges und der drohenden juristischen Verfolgung wirkt nun offenbar auch auf andere Steuersünder. Die unperfekte Welt funktioniert einen Moment lang besser, als es die Clique der „außergewöhnlichen Menschen“ dachte.Etwa 15 Prozent der aktuellen Selbstanzeigen führen Experten auf den Hoeneß-Effekt zurück. Steuer-CDs und die Hoeneß-Anklage zeigen, dass der Rechtsstaat der gewöhnlichen Menschen durchaus Mittel hat, außergewöhnliche Machenschaften zu entdecken und zu bestrafen.Echte Einsicht? FehlanzeigeAuf den ersten Blick könnten die steigende Zahl der Selbstanzeigen deshalb dafür stehen, dass die Raskolnikows unserer Zeit einsehen, dass das System, in dem wir leben, vielleicht doch nicht so unperfekt ist. In Wirklichkeit aber ist wohl das Gegenteil der Fall. Schon Hoeneß’ späte Selbstanzeige war nur dem Umstand geschuldet, dass seine Machenschaften vor der Entdeckung standen – er strebte also keine Sühne, sondern eine Verringerung der Schuld an. Ein wichtiger Unterschied.Dass die Selbstanzeigen anderer Steuerhinterzieher gerade jetzt stark zunehmen – die Behörden sprechen bereits vom „Januarfieber“ –, hat ebenfalls einen anderen Grund als echte Einsicht: Steuersünder pokern und zögern die Abgabe der Selbstanzeige heraus, um die Verjährungsfrist um ein Jahr zu dehnen. So können sie durch das Einreichen im Januar statt im Dezember die illegalen Gewinne von 2004 noch ungesühnt einstreichen.Dostojewski führte Raskolnikow übrigens nicht durch die Strafe, sondern durch die Liebe zur Sühne. Erst die Prostituierte Sonja bringt ihn zur inneren Einkehr. Nur die Liebe stellt das Gleichgewicht zwischen Schuld und Sühne her. Auch deshalb taugen weder Putins Amnestien noch die aktuellen Selbstanzeigen der Steuersünder für einen Weltroman, geschweige denn für ein ausgewogenes Verhältnis von Schuld und Sühne. Wenn überhaupt, sind sie Rituale, die uns einen Moment lang vor Augen führen, dass der gewöhnliche Mensch die selbsternannten Außergewöhnlichen zumindest für kurze Zeit dazu zwingen kann, neue Wege zu finden, die allgemeingültigen Regeln zu umgehen. Mehr aber wohl auch nicht.