Das neue China

20 Jahre Tiananmen Die Bewegung von einst macht der Regierung in Peking bis heute Angst. Das Internet wurde weitläufig abgeschaltet. Das könnte sich zum Eigentor werden

Die schockierenden Bilder vom Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens haben sich ins kollektive Gedächtnis der westlichen Demokratien gebrannt. Viele junge Chinesen hingegen wissen nicht, dass am 4. Juni 1989 ein Massaker in ihrem Land begangen wurde. Und viele andere Chinesen interessieren sich nicht für das, was damals geschah. Die in den USA lebende Schriftstellerin Diane Wei Lang warnt, das Massaker nicht als Keule gegen China einzusetzen: Es sei ein neues China entstanden.

Ist der Westen in der ganzen Pracht seiner Menschenrechtsfolklore schlecht informiert? Die Maßnahmen, die die chinesischen Behörden zur Unterdrückung des öffentlichen Gedenkens an 6/4, wie der Tag in China bezeichnet wird, ergriffen haben, beweisen einmal mehr, wie weit das Regime von einer Demokratisierung entfernt ist. Die Erinnerung an die brutale Niederschlagung der Reformbewegung wird rigoros unterdrückt. Am Dienstag wurden sämtliche Web-2.0-Services wie Twitter, Flickr, Live.com, Hotmail.com, YouTube, Blogger und Bing sowie zahlreiche andere Seiten gesperrt. Doch die Verbote konnte nicht verhindern, dass sich Informationen über geplante Aktionen auf anderen Kanälen verbreiteten. In Hongkong demonstrierten bereits Tausende.

Die Furcht des Regimes vor der unkontrollierten Verbreitung von Informationen über das Massaker ist riesengroß. Die ungeklärten Umstände des Todes von etwa 3.000 Demonstranten verursachten ein kollektives Trauma. Durch die Fokussierung der Weltöffentlichkeit auf die Schicksale von noch immer etwa 200 inhaftierten Demonstranten wurde fast vergessen, dass die Protestbewegung eine Massenbewegung war. Eine Million Menschen aus allen Berufen und Bevölkerungsschichten gingen damals allein in Peking auf die Straße. Dieses Potenzial macht dem chinesischen Regime offenbar noch heute Angst. Hinzu kommt, dass die Aktivisten vom Tiananmen keineswegs die Abdankung der Partei verlangten, sondern – bis zum brutalen Einsatz der Volksarmee – sogar von Teilen der Partei Unterstützung signalisiert bekamen. Selbst Mitarbeiter von Staatsmedien hielten Transparente mit der Aufschrift „Zwingt uns nicht mehr zum Lügen“ hoch. Das Massaker zerstörte die Glaubwürdigkeit der Machthaber. Eine Aufarbeitung könnte massiv der Lesart entgegenwirken, die Teilhabe der Bevölkerung am wirtschaftlichen Erfolg des Landes zeige die Reformfähigkeit des Regimes.

Seit Wochen wurden Dissidenten davor gewarnt, öffentlich aktiv zu werden. Außerdem kam es zu neuen Verhaftungen. Oppositionelle wurden unter Hausarrest gestellt. Dennoch gelingt es dem Regime nicht mehr, die Erinnerung vollständig zu unterdrücken. Inzwischen gibt es eine wachsende Oral-History-Bewegung, die auch die Erfahrungen von 6/4 tradiert. Öffentliche Trauerfeiern der „Mütter von Tiananmen“, die Aufklärung über das Schicksal ihrer Angehörigen fordern, stoßen auf große Resonanz. Das Regime, das über einen aggressiv geschürten Nationalismus die Bevölkerung emotional an sich bindet, muss befürchten, dass die authentische Erinnerung an das Leid von 1989 stärker bindet. Dass nicht nur die potenziellen Organisatoren von Gedenkveranstaltungen und Protestaktionen ihrer effektivsten Kommunikationsmittel beraubt sind, sondern auch all jene, deren Unwissen erhalten werden soll, könnte sich als Eigentor erweisen. Kaum vorstellbar, dass die für ihre Internetaffinität bekannten jungen Chinesen nicht wissen wollen, warum das Regime das komplette Social Web abschaltet.

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