Zu Beginn dieses Jahres konnte man sich im ZDF eine so genannte Lyriknacht zu Gemüte führen. An für sich keine völlig wertlose Einrichtung, vermittelte dieser angebliche Querschnitt durch die deutsche Lyriklandschaft jedoch einen hoch seltsamen Eindruck, der in einer symptomatischen Momentaufnahme kulminierte: Die Berliner Dichterin Ulrike Draesner wurde links von Wolf Wondraschek, rechts von Ulla Hahn mit eitlen Torheiten zugeschüttet, die sie, in der Mitten um ein ernsthaftes Gespräch über Poesie im 21. Jahrhundert bemüht, konsterniert zurücklassen mussten. Die Einladungspolitik zu den wenigen Gelegenheiten, bei denen Dichtung noch eine größere Aufmerksamkeit erreichen kann, ließ den Schluss zu, dass sich ein gewisser Retro-Look
Retro-Look auch hier augenscheinlicher Beliebtheit erfreute, egal, ob er in der Schwafel-Pose der siebziger (der Wolf) oder als Reimhäkelkitsch der achtziger (die Ulla) daherkam. Lyrikerinnen und Lyriker, die in diesem Simulationszirkus nicht mittun wollen und auch nicht wie viele jüngere in neue Netzwerke eingebunden sind, haben bei solch tendenzieller Entwertung des Lyrikbegriffs keine guten Karten.Einer derjenigen, die sich weder mit dem grassierenden Beliebigkeits-Charme von Politycki bis Enzensberger noch mit narzisstischen Aufladungen von Kleinstwahrnehmung gemein machen können, ist der Leipziger Lyriker Andreas Reimann. Der nun allerdings aus einer Dichtungstradition kommt, in der solch inflationierende Scharlatanerie nie eine Chance gehabt hat, weil die ästhetischen Maßstäbe, die dort herrschten, Aufplusterungen wie diese sofort der Lächerlichkeit preisgegeben hätten.Als "Benjamin" der "Sächsischen Dichterschule" und jüngster Schüler von Georg Maurer erregten bereits seine ersten Gedichtveröffentlichungen in den sechziger Jahren Aufmerksamkeit bei den Kennern (das erste Gedicht in einer "ernsthaften" Zeitung erschien 1961 im Sonntag) und Unmut bei den Abschnittsbevollmächtigten der Kulturpolitik. Reimann verbindet klassische Formstrenge, gravitätischen Gestus, kommune Sprecherhaltung und pralle Sinnlichkeit. Das begründet die Unverwechselbarkeit dieser Stimme bis heute. Was Haltungen anbetrifft, so expedierte sie ihn durch die schismatische Erfahrung von Prag ´68 für einige Zeit ins Gefängnis, ein Lebenseinschnitt, aus dem der Autor nach 1989 anders als viele andere kein vordergründiges Kapital schlagen wollte.Reimanns einzige in der DDR Mitte der siebziger Jahre veröffentlichten Gedichtbände Die Weisheit des Fleisches und Das ganze halbe Leben hatten eine ungewöhnlich große Resonanz, freilich vorwiegend außerhalb der offiziellen Literaturkritik gefunden. In den achtziger Jahren scheiterten weitere Bände, weil Reimann sich öden Kompromissen verweigerte; statt dessen wurden viele seiner Texte durch Liedermacher und Rockgruppen wie Lift populär. Nach 1989 hat Reimann neue Gedichte in gebündelten Häppchen - erotische Gedichte, Italien-Reminiszenzen, Song-Texte und Sonette - unter rührige Verleger-Enthusiasten gestreut, was den Leipziger Faber-Verlag bewog, nun endlich eine Gesamtauswahl seiner zwischen 1989 und 2004 geschriebenen Texte zu veröffentlichen. Das entschuldigt den irreführenden Untertitel Gesammelte Gedichte wenigstens teilweise. Mit Zwischen den Untergängen ist nach reichlich 27 Jahren (!) wieder ein gewichtiger Gedichtband dieses Lyrikers präsent. Und, um es gleich zu sagen, ein großer. Denn Reimann hat eine Balance zwischen scharfer Beobachtung der landesüblichen Verwerfungen, ausfahrender Neugier und epikuräischer Daseinslust gefunden, die bei allem Sarkasmus weit entfernt von Larmoyanz ist, eine Balance, die überraschende Bildfindungen, semantische Derbheiten und sprühenden Witz gleich gewichtet.Der Dichter hat seine Gedichtauswahl in vier unterschiedlich akzentuierten Abteilungen geordnet. Die den Band eröffnenden "Überlebenszeichen" sind nicht allein grimmige "Wende"-Notate und poetische Gänge ins Dunkle der eigenen Lebensgeschichte, es sind dabei auch kräftige Schläge ins Kontor derer, die gern neudeutsche Mythen produzieren. Die in den Umbruchszeiten geschriebenen Gedichte bezeugen eine Hellsichtigkeit, die als Ausweis poetischer Qualität gelesen werden kann. Bereits im ersten Gedicht Dialog konterkariert Reimann die bizarren Illusionen des ´89er Herbstes: Wahrlich, sie singt, die versinkende art: / als ob sie die wellen verschlängen! / Doch höre, sie haben die worte bewahrt!-/ Welche? Die heitren, die strengen?- / Die immer-worte, zusammengespart / für eine weitere gegenwart: / "Zwischen den untergängen / sind wir noch immer in fahrt!"In "Immer noch, ewiglich" setzt eine Verbkonstruktion blitzlichtartig das Ungeheuerliche dieser Szenarien ins Bild, indem aktuelle Vorgänge mit Unvordenklichem kurzgeschlossen werden: "bisweil vorbeistapft gen abend der saurier prolet, / der aussterben geht." Reimann befleißigt sich hier einer komplexen Reflexionsfigur, deren Muster man anders bei Heiner Müller, Volker Braun, Harald Gerlach, Wilhelm Bartsch oder Karl Mickel wiedererkennt: Geschichte wird zum Geschichteten der Ablagerungen früheren Lebens, Liebens und Sterbens, zum "tektonischen Vorgang als ... Vorgang in der Tiefe" (Volker Braun). Das ist dann weniger eine anthropologische Geschichtskonstruktion als der Versuch, über die Evokation älterer als der aktuellen Geschichtsverwerfungen wenigstens metaphorische Haltepunkte in den Eruptionen der Gegenwart zu finden. Nicht zufällig greift Reimann auch auf Gestus-Zitate Brechts und Hölderlins zurück, gleichsam als Selbstversicherungen gegenüber dem Einbruch banal-grausamer Marktrealitäten mit ihrer inhärenten Geschichtslosigkeit: Zerfallendes, immer noch, ewiglich. Auch / das langsamwüchsige zarte gesträuch / ist rege beteiligt an der zerstörung / des wohnlich gewesnen, und lieblich bedünkt / den makler / das bäumchen, dem er verweigert / die gründung im grunde, sofern es verklimmt / sich droben im dachstuhl.Dass hier das Politische existentiell dimensioniert und begreifbar wird, erklärt denn auch die unbeholfenen Beschwichtigungsversuche des Verlags im Klappentext, nach dem Reimanns "poetischer Blick weniger auf politische Umstände" ziele denn auf "den menschlichen Zustand insgesamt". Nein, Reimann ist stets auch ein politischer Dichter gewesen, der den Fallstricken jedweder Ideologie deshalb entgehen konnte, weil sich Wahrnehmungswachheit, Kunstbewusstsein und Wahrheitssinn stets noch uneinnehmbar für jedwede Interventionsinteressen erwiesen. Ein wahrlich seltener Fall von hochgemuter Lauterkeit. Und daher auch seine unopportune Mitleidlosigkeit in der "Widerrede": Du warst es doch, der da blökte einst hinter der mauer, / es wäre die freiheit dir teuer! Nun ist sie´s halt auch.Diese neue Freiheit erkundet Reimann in einer "Kleinen Emigration", dem zweiten Kapitel seines lyrischen Diariums. Den es da "in den wettern europas" umtreibt, der da außerhalb Deutschlands als Fremder mehr im Einklang mit sich schaut und staunt als daheim, der schaut und staunt weniger als Reisender, der bewegt sich auch dort am Weltriss: Meine freude / ist würziger honig, ist bitterer hohn. / Und es siehet das schöne/ nur jener, der abwendet sich.Einen wieder anderen Ton schlägt der "trojanische Pegasus" (dritte Abteilung) an: Ehe "das gras des vergessens / im wieder und wieder versprochenen lenz / aus allen fugen und fontanellen" schießt, nimmt der Sprecher Korrespondenzen auf, um sich seiner historischen Teilhabe am Weltwitz versichern zu können: mit Brecht, Schiller, Kafka, Becher oder Marx, dem er einen Brief nach Karlsbad nachschickt: Wie eben die klasse, aussterblich, weil allzu geschickt / geräte sie fügte, die ohne sie weitern und weitern, / bis sie sich selber genügen und treten ans licht / aus den schon lange entmenschten fabriken und / trieben die hinterbliebnen der fortgeschrittnen ins / reich des schlußverkaufswahnsinns. Denn wer nichts besetzt, wird besitzen / nichts.Die vierte Abteilung "Salz-Uhr" rundet den Band, indem sie zu den ersten Gedichten aufschließt und sich in vegetativ-kreatürlich unterlegten Bildläufen den großen Themen von Lieben und Sterben, Werden und Vergehen stellt. Die gesalzenen, manchmal auch ein wenig in der Länge überdehnten Versschönheiten patinöser Zeitgenossenschaft gehen von Versen aus wie diesem: "es gehet den träumen das salz nicht aus."Fast überflüssig zu betonen, dass der Band auf das Sorgfältigste komponiert ist, dass Reimann wie eh und je eine Staunen machende Bandbreite lyrischer Formen vom Ritornell über die Elegie bis zu diversen Odenstrophen vorstellt. Überhaupt nicht überflüssig hingegen ist der dringliche Hinweis, dass ein exzellenter Dichter einer exzellenten Dichtergeneration - zu nennen wären hier Wolfgang Hilbig, Thomas Rosenlöcher, Wilhelm Bartsch, Richard Pietraß und Brigitte Struzyk - endlich der symptomatischen Ignoranz derjenigen entwunden werden muss, die glauben, sie besäßen die kulturelle Deutungshoheit hierzulande.Andreas Reimann: Zwischen den Untergängen. Gesammelte Dichtung. Faber, Leipzig 2004, 277 S., 16,50 EUR
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