Die Geschichte des deutschen Terrorismus der siebziger Jahre war nie ein Tabuthema; vereinzelt hat es über die Jahrzehnte immer wieder Filme, Bücher und auch so manches Theaterstück gegeben, die sich damit auseinander setzten. Zur Zeit aber gibt es einen wahren Boom von Dokumentar- und Spiel-Filmen. War Heinrich Breloers preisgekröntes Todesspiel noch zum 20-jährigen Jubiläum des sogenannten deutschen Herbsts angesetzt, zeigt sich mit Filmen wie Innere Sicherheit, Die Stille nach dem Schuss, Black Box BRD,Starbuck Holger Meins,Do it und bald noch dem bereits auf der Berlinale präsentierten Baader, die alle innerhalb relativ kurzer Zeit bei uns in die Kinos kommen, ein so unvermittelt auftretendes wie ungeheuer lebhaftes Interesse. Warum gerade jetzt, fr
ngeheuer lebhaftes Interesse. Warum gerade jetzt, fragt man sich. Die schlüssige Antwort darauf scheint noch niemand gefunden zu haben. Es sei denn die: Die Sache hat sich gründlich erledigt. Es gibt viele Bedrohungen im Inneren unserer Gesellschaft, aber ein bewaffneter Kampf von Links gehört im Moment nicht dazu. Und auch auf der anderen Seite der "Front" ist Ruhe eingekehrt: Wovor die damaligen Regierenden eine fast paranoide Angst an den Tag legten, vor der Ausstrahlungskraft dieser Bewegung in die Mitte der Gesellschaft hinein, auf die braven Gymnasiasten und ordentlichen Studenten, hat sich vollkommen ins Reich viel diskutierter, aber nie ganz geklärter Phänomene verflüchtigt. Das Sympathisantentum, einst eine sehr ernste Sache und für so manchen Lebensweg entscheidend, ist zum nostalgischen Gefühl verkommen, an das sich jedermann gern erinnert. Wo früher Freund von Feind danach geschieden wurde, ob jemand der "Selbstmordtheorie" oder der "Mordversion" anhing, da herrscht heute abgeklärte Gelassenheit. So wenig politische Erregung der Stoff noch erzeugt, so viel ästhetisches Interesse wird ihm nun also entgegengebracht. Doch ist das eine die Bedingung des anderen? Gelassenheit ist selbstverständlich eine gute Voraussetzung, die vielfach aufgeladene Geschichte des deutschen Terrorismus neu zu betrachten. Regisseur Andreas Dresen verpflichtet in seiner neuesten Theaterarbeit an den Kammerspielen des Deutschen Theaters die Zuschauer zu dieser Haltung schon durch den Titel seines Stücks: Zeugenstand. Man ist aufgefordert, in Ruhe anzuhören, was die auf die Bühne Gerufenen zu sagen haben. Anders als der Titel suggeriert, tagt hier jedoch kein Gericht und am Ende wird es auch kein Urteil geben - es sei denn in unseren Köpfen. Was Dresen auf die Bühne bringt, sind nämlich keine Verhandlungszeugen, die Anklage oder Verteidigung be- oder entlasten, sondern Zeitzeugen - ein kleines, aber umfassendes Panorama an eingeschränkten, subjektiven Perspektiven rund um die Entführung von Peter Lorenz, damals Spitzenkandidat der Berliner CDU bei den Senatswahlen 1975. Formal ist er damit nah am Fernsehformat "Dokuspiel", nur dass hier die Aussagen der Personen keine Interview-Ausschnitte, sondern sorgfältig recherchierte Erfindungen sind und anstelle von Spielszenen kurze musikalische Einlagen den Flair der Zeit in Erinnerung rufen: "Ich will nicht werden, was mein Alter ist", sangen die Ton Steine Scherben. Es sind sechs Monologe von fünf Personen, die Dresen in gleichbleibender Kulisse vortragen lässt. Die Terroristin (Steffi Kühnert) erzählt von den Schwierigkeiten der ersten Banküberfälle, von den Entscheidungen, ob man besser ein unauffälliges, aber langsames Auto, einen Käfer, als Fluchtwagen nimmt, oder doch ein schnelles, aber auffälliges wie den BMW. Die Witwe des ermordeten Kammergerichtspräsidenten (Christine Schorn) erzählt von der Türkette, die sich aus den Halterungen löste, als drei kräftige junge Männer sich dagegen stemmten, auf der anderen Seite nur sie und ihr Mann, zwei alte Leutchen. Der Chauffeur (Axel Prahl) gibt zum Besten, was für ein feiner Chef Lorenz gewesen sei, und dass "die Brüder" ihn härter getroffen haben, als in der Zeitung stand. Lorenz (Michael Prelle) schließlich berichtet vom Schachspiel mit seinen Entführern und deren Entgegenkommen: Sie haben ihn gewinnen lassen. Frau Busch (Margit Bendokat), Mutter eines behinderten Kindes in finanziellen Nöten, schildert ihre Reaktionen auf den solidarisch formulierten Brief der Entführer, mit dem die ihr Geld schickten. Und zum Abschluss spricht noch einmal die Terroristin, über Haftbedingungen und Scheitern. Das klingt nach wenig. Tatsächlich kommen die großen Fragen, die nach der Berechtigung der Gewalt, nach der Schuld der Täter und dem Leiden der Opfer, nach Recht oder Unrecht nicht eigentlich vor. Und doch tritt im Zusammenspiel all dieser ausschnitthaften, subjektiven Beobachtungen im Grunde alles klar zu Tage: Die Lust der Bürgerkinder am gefährlichen Räuber-und-Gendarm-Spiel genauso wie deren Entschlossenheit zum Widerstand gegen eine Gesellschaft, die sie als Fortsetzung des Faschismus begriffen; die Unbedarftheit und Unerfahrenheit der Opfer in dieser Auseinandersetzung genauso wie deren starres Traditionsbewusstsein; die Kluft zwischen den selbst ernannten Revolutionären und denen, für deren Glück sie sorgen wollten. Mit den, wie man so sagt, bescheidenen Mitteln des Theaters bringt Dresen etwas auf die Bühne, was das Dokuspiel eben nicht kann: Die Geschichte in Idiomen erzählt, oral history im übertragenen Sinne. In den Gegenschnitten von Doku-Material und aktuellen Interviews bei der herkömmlichen Fernsehproduktionen stehen sich nämlich die formelhafte, standardisierte Tagessschau-Sprache und die nicht weniger standardisierten modernen "Erlebnisberichte" gegenüber. Das eine holt das andere nicht ein. Bei Dresen dagegen wird hervorgezaubert, was dort stets verborgen bleibt: Die feinen Unterschiede der Betrachtung. Man muss zum Beispiel hinhören, wie Axel Prahl von "den Brüdern" redet, wenn er die Terroristen meint. In der Premieren-Aufführung bewegte er sich in der Rolle des berlinernden Chauffeurs dicht am Wolfgang Grunerschen Kabarettauftritt ohne je ganz dahin abzudriften. Vielmehr macht er sich dessen beste Seite zunutze: dem Volk aufs Maul geschaut. Ähnlich verhält es sich bei Margit Bendokat in der Rolle jener Frau Busch, die von den Terroristen Solidaritätspost bekommt. In minimalistischer Theaterarbeit wird hier die Verschiedenheit der Welten herauspräpariert, der Clash der Kulturen, der aus einer unheimlichen Nähe entsteht. Nie wird das deutlicher, als wenn Michael Prelle als Peter Lorenz davon erzählt, dass ihn die Entführer im "Volksgefängnis" am Samstagabend seine Lieblingsfernsehsendung schauen ließen, das Ohnsorgtheater. Die Terroristen hätten mitgeschaut und sogar mitgelacht, wenn auch nicht so oft wie er. Ein Höhepunkt der Aufführung ist Christine Schorns fast gestenloser Auftritt als tapfere Gattin. Vornehm und weltfremd schildert sie in anerzogener Gefasstheit den Überfall und die Ermordung ihres Ehemanns. Vollkommen unpolitisch an der Oberfläche kommt hier in präzis gesetzten Untertönen ein ganzes, inzwischen ausgestorbenes Erziehungssystem sprachlich in den Zeugenstand. Da Andreas Dresen aus dem Osten kommt, der Terrorismus aber ein ganz spezifisch westdeutsches Phänomen war, liegt es nahe, nach seiner besonderen Sicht auf die Dinge zu fragen. Doch die hat Dresen in seiner Inszenierung weitgehend ausgespart, worin natürlich auch eine Geste der Bescheidenheit zu erkennen ist. Dresen hat kein Stück über seine eigene Perspektive auf die Dinge gemacht, sondern allenfalls eines über den Weg dahin. Nur indirekt lässt sich deshalb im Zeugenstand eine Antwort auf die zu Beginn gestellte Frage nach dem "Warum jetzt?" finden. Sicher, es gibt diese Bewegung der Heimholung der verlorenen Kinder in die Familie. Der verfemte Ordner mit dem geheim gesammelten Material wird aus dem Versteck geholt und zur Reihe "deutsche Nachkriegsgeschichte" gestellt. Aber vielleicht verdeckt die allgemeine Gelassenheit nur momentan die Tatsache, dass es noch längst keinen Konsens über die Ereignisse gibt. "Die in den vorliegenden Monologen geschilderten Vorgänge entsprechen weitestgehend historischen Tatsachen. ... Biografische Details sind frei erfunden", heißt es im Programmheft. Die Inszenierung überbrückt den Graben zwischen Wahrheit und Dichtung und zeigt damit aber auch, dass es ihn gibt.
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