Erfurt ist überall Die Schule allein kann mit dem kulturellen Umbruch, dem Jugendliche ausgesetzt sind, nicht fertig werden. Abgrenzungs- und Konkurrenzkämpfe nehmen zu, Rückzugsräume schwinden
Bereits wenige Tage nach der blutigen Gewalttat eines Schülers in Erfurt haben die Medien einen Berg von Erklärungen aufgehäuft, breiter und höher als der Blumenberg vor dem Eingang des Gutenberg-Gymnasiums. Ergibt es da noch einen Sinn, dem einen tausendhundersten Aspekt hinzuzufügen? Erklären gerät in der Mediengesellschaft zur entlastenden Erledigung eines Problems, wonach mit tödlicher Folgerichtigkeit zur Tagesordnung übergegangen wird. Politiker, die über Jahrzehnte die Erosion des Sozialstaats und seiner Gesellschaft betrieben oder ihr tatenlos zusahen, beklagen am Grab der Opfer "soziale Kälte" und "Anonymität". Was bleibt, um solche wohlfeile Heuchelei zu fliehen, anderes, als sich den wenig spektakulären und langfri
fristig wirkenden Dimensionen des Erfurter Desasters zuzuwenden? Solange die Schule ist, was sie ist, wird niemand ausschließen können, dass einmal der Wunsch ein Schülerhirn durchgeistert, alle Lehrer zu erschießen. Zwar setzen nur wenige den Gedanken in die Tat um, die Frage ist allerdings, warum es offenbar mehr werden. Schon dass der Täter von Erfurt seine Tat von langer Hand vorbereitete, spricht ja gegen magische Erklärungen einer Medienimitation nach dem Motto: sieht Gewaltfilm und rennt mit Pumpgun zur Schule. Der öffentliche Gedankenhandel funktioniert leider mittlerweile so, dass sich die Medienmogule, dies Argument platziert habend, zufrieden zurücklehnen und auf gute Geschäfte in der Zukunft anstoßen. Ihr Freispruch muss noch einen Moment warten. Lassen wir die gar nicht unwichtige Frage beiseite, wieviele Lehrer ihre Unversehrtheit dem Umstand verdanken, dass Schülerinnen und Schüler Gewalt zuerst gegen ihresgleichen richten, so kann zunächst das Wissen darum festgehalten werden, dass bei den meisten aggressiven Schülern - wie überhaupt bei den meisten Menschen - eine Reihe von Hemmschwellen den Weg vom Gedanken zur Tat unterbrechen. Den Hemmschwellen entspricht ein System von Grenzziehungen zwischen Lebensbereichen und Dimensionen menschlichen Handelns, das heute Fünzigjährige - also die im weitesten Sinne verantwortliche Generation - meist unhinterfragt voraussetzen: etwa die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Normen und Tatsachen, zwischen Persönlichem und Öffentlichem, zwischen Interessen und objektiven Gesetzen, zwischen Politik und Ökonomie. Gewiss war es schon immer eine der Erziehungsaufgaben, Kinder und Jugendliche an den Umgang mit diesen Grenzziehungen heranzuführen. Frühere Generationen konnten jedoch damit rechnen, dass Kinder aus ihren Elternhäusern mit einem Grundriss, mit einer Art Bewusstseinslandschaft von Bereichen und Handlungsmöglichkeiten in die Schule kamen. Mit dieser Gewissheit ist es, wie an den Schulen täglich erfahrbar, vorbei. Mit dem, man muss es schon sagen, Gequatsche über "Werte", die "wieder vermittelt werden" müssten - als würde das nicht geschehen! -, ist das Phänomen nur sehr oberflächlich erfasst. Wenn eine Schülerin nach einer Erpressung im Zusammenhang des berüchtigten "Jacken-Abziehens" einfach keinerlei Einsicht darin artikulieren kann, dass sie jemanden geschädigt hat, dass sie darüber hinaus an eine Ordnung gerührt hat, die auch sie trägt, dann lautet die Diagnose nicht in erster Linie, dass versäumt wurde, ihr einen "Wert" einzupflanzen; vielmehr fehlt ihr bereits eine Sprache, welche ihr die Grenzen zwischen Mein und Dein, zwischen Ich und Gemeinschaft, zwischen individuellem Motiv und gesellschaftlicher Regel auszusprechen und somit zu erkennen erlauben würde. Weit unterhalb der Schwelle offener Regelverletzungen zeigt sich die hier diagnostizierte Grenzen- und Haltlosigkeit in der Alltagssprache vieler Jugendlicher. Während die Sprache reale Grenzen durch Satzanfänge und -enden markiert, kommunizieren Jugendliche häufig in Wortclustern, die im Gespräch nicht nacheinander, sondern parallel laufen. Man kann gar nicht sagen, sie unterbrächen sich gegenseitig, sie sind immer schon unterbrochen, und zwar ununterbrochen. Je stereotyper, das heißt gegenüber der jeweiligen Situation gleichgültiger, die aus den Medienumwelten entnommenen Phrasen daherkommen, desto mehr sind sie metonymisch aufgeladen. Sie bringen einen festen Sinnkomplex mit sich und können im Diskurs nicht mehr zerlegt, sondern nur noch gekontert werden. Die Kommunikation wird unter dem Einfluss dieser Veränderung konfrontativ statt interaktiv, - konfrontativ im Sinne einer unvermittelten Entgegensetzung von in sich geschlossenen Clustern von Bedeutungen. Sprechhandlungen wie Erzählen, Erklären oder Argumentieren haben es in einer solchen Umgebung schwer, weil sie grundsätzlich mit Lücken und Unterbrechungen operieren, welche im herrschenden Jargon verklebt sind. Die Welt einer solchen Sprache ist immer eine, die sich nur nach außen, gegen eine andere abgrenzt. Eine gewisse Tendenz zur Eindimensionalität macht sich auch in den Schwierigkeiten bemerkbar, dem klassischen Bildungskanon entsprechende Leistungen wie selbstverständlich einzufordern. SchülerInnen sollen wie eh und je Texte erschließen, sie mit ihrem Vorwissen verknüpfen oder konfrontieren, davon aktuelle Wirklichkeiten ebenso unterscheiden wie verschiedene Dimensionen von Bewertungen der Texte, etwa durch sie selbst oder durch andere Experten. Das war schon immer schwer. Aber es wird, wie Lehrerinnen und Lehrer durch alle Schularten hindurch fast gleichlautend bestätigen, in einer Weise und in einem Maße schier unmöglich, dass von einem kulturellen Umbruch gesprochen werden muss, mit dem die Schule allein unter keinen Umständen fertig werden kann. Die in einem Text verarbeitete vergangene Realität verschmilzt im Verständnis der Schüler häufig mit der Perspektive des Autors, mit der heutigen Realität und heutigen Bewertungen derart, dass oft nur noch auswendig gelernte methodische Handreichungen zumindest den Schein einer "Textanalyse" aufrechterhalten können. Immer häufiger verlassen LehrerInnen solche Lernsituationen in dem so sicheren wie unguten Gefühl, dass sie den Aufbau ihrer Welt nicht mehr auf die Wahrnehmungsmuster der SchülerInnen übertragen können. Der säkulare Zerfallsprozess einer gegliederten Welt wird gewiss dadurch verdeckt, dass die Heranwachsenden sich taktisch - was bleibt ihnen weiter übrig - an die Anforderungen anpassen, welche die Erwachsenenwelt an sie stellt. Sie leben in verschiedenen Welten, die aktuelle gewinnt aber in immer mehr Situationen und bei immer mehr Individuen die Oberhand. Es ist wie mit dem schleichenden Strukturwandel der Öffentlichkeit, wo die permanente Veröffentlichung des Privaten mit Hilfe des Handys durch lächerliche Diskretionszonen konterkariert werden soll. Das Verschwimmen tradierter, aber nur mehr scheinbar verbürgter Handlungsgrenzen ergibt sich im Zusammenwirken vieler Instanzen, von denen das Fernsehen und der Computer nur zwei, aber nicht die Einzigen sind. Der Versuch, die "Gewalt in den Medien" zurückzudrängen, greift viel zu kurz, eben weil die viel größere Gewalt ungerührt weiterwirkt, welche der Medienverbund dem Aufbau der Welt bereits zugefügt hat. Aus demselben Grund würde es auch wenig nützen zu versuchen, den tendenziell psychotischen Zusammenfall früher getrennter Welten mit einem eigenen Fach "Medienkunde" beikommen zu wollen. Zumal der hier beschriebene Mechanismus in den "tragischen Einzelfällen" nur zusammen mit einer anderen mächtigen Zeittendenz zur Wirkung kommt. Die Einzelnen würden nicht "ausrasten", wenn sie nicht unter dem Druck ständen, sich über die Maßen beweisen zu müssen. Auch hier gilt, dass die Abgrenzung und das Auftrumpfen, welches erst noch sein Maß sucht, immer schon zum Jugendalter gehörte. Wer jedoch die Kämpfe um Kleidung und die Mobbing-Rituale tagtäglich beobachtet, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass für immer mehr junge Menschen der Drang, sich gegen andere abzugrenzen und zu behaupten, zu einer akuten Not wird. Es ist lächerlich, dies allein in den Zusammenhang mit schulischem Leistungsdruck zu stellen. Die ganze Gesellschaft treibt die Kinder in die Individuationsklemme, angefangen bei den "machtlosen" Eltern, die, nachdem sie selbst für die Kinder nichts mehr darstellen, diese als Stars sehen wollen und sie vom Karaoke-Wettbewerb zum nächsten Casting schleppen, über die Markenwerbung bis hin zur neoliberalen Verherrlichung des privaten Risikos. Die Ich-Werdung kommt deshalb mehr als früher in eine Klemme, weil, wie beschrieben, die elementaren Möglichkeiten zur Abgrenzung und zum Rückzug in eine je eigene Welt bei Erhaltung der Rückkehrmöglichkeiten durch den psychotischen Grenzabbau in den Alltagssprachen drastisch schwinden. Wie in der Gesamtgesellschaft ist die "repressive Toleranz" der aparten Welten einer aggressiven Toleranz des unvermittelten Zusammenpralls der Unterschiede gewichen. Man kann den Anderen als Anderen - oder gar als Fremden - nicht mehr anerkennen, will jedoch selbst als der eine Größte gelten, der darin eben doch anders als die Anderen ist. Diese Verrücktheit wird kein Kanzlergespräch oder kein Runder Tisch schnell mal beseitigen. Da helfen nur vielfältige Chancen, im Schulalltag Orientierung zu geben, wo sie gerade verloren zu gehen droht; Gespräche zu führen, mit Schülern und Lehrern Auffangnetze zu bauen, die das Abstürzen Einzelner verhindern. Da Verfügungsstunden für KlassenlehrerInnen gestrichen, die Klassen vergrößert wurden, Personal schulpsychologischer Beratungsstellen abgebaut wurde, kurz: finanzpolitischen und betriebswirtschaftlichen gegenüber pädagogischen Maßstäben der Schulentwicklung Vorrang gegeben wurde, sind die Möglichkeiten dafür dramatisch geschwunden.
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