Der Chor geht vor

Dokumentarfilm In „Maidan“ erzählt Sergei Loznitsa die ukrainischen Proteste auch als moderne Schlachtengemälde
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 36/2015

Am Anfang steht eine minutenlange Einstellung, in der Menschen die ukrainische Nationalhymne singen. Es sind viele Menschen, sie nehmen das ganze Bild ein, nichts als Menschen – ein Chor, eine Masse, aber keine gesichtslose. Im Gegenteil: Weil die Einstellung statisch ist und so lange dauert, wie das Singen der Hymne von Anfang bis Ende eben dauert, ist ausreichend Zeit, einzelne Gesichter und Details zu studieren. Die kalte Luft macht Atemwölkchen, viele Männer haben ihre Pelzmützen vom Kopf genommen. Eine Frau vorn in der Mitte singt voller Inbrunst, ein älterer Mann weiter hinten bewegt seine Lippen gar nicht. Die Einstellung dauert noch immer, und mein Ohr bleibt an der Textzeile „Verschwinden werden unsere Feinde wie Tau in der Sonne“ hängen.