Victor Papanek war gerade 15, als er auf der Flucht vor den Nazis aus Wien in New York ankam. Es war 1939, das Jahr der dortigen Weltausstellung, einer Schau stolzen und utopisch aufgeladenen Technikglaubens: Die neuen Horizonte, zu denen die Menschheit auf uferlosen Highways aufbrach, schimmerten in Technicolor, und unterwegs leuchteten die magischen Versprechungen einer heilen Warenwelt aus Fernsehern, Faxgeräten und elektrischen Geschirrspülern von den Werbetafeln. Das gigantische Spektakel zeugte aber vor allem von der verführerischen Macht des Designs, das die wundersamen neuen Errungenschaften und deren Freiheitsversprechen in glänzende Oberflächen kleidete: stromlinienförmig, aerodynamisch und strahlend weiß. Papanek ist dann selbst jahrzehntelang
ng den Verheißungen des Konsumismus gefolgt, arbeitete für die Elektro- und die Pharmaindustrie und für das US-amerikanische Militär.Doch inspiriert vom Zeitgeist studentischer Gegenkultur und von kritischen Denkern wie dem Medientheoretiker Marshall McLuhan oder dem Architekten und Designer Richard Buckminster Fuller rechnete Papanek 1971 in einem polemischen Manifest in einem großen Rundumschlag mit allem ab, was seinen Beruf ins Zentrum kapitalistischen Denkens stellte: Designer waren für ihn verantwortlich für die Wegwerfmentalität und Unmündigkeit von Verbrauchern, für die Zerstörung der Umwelt und die wachsende weltweite soziale Ungleichheit. „Es gibt Berufe, die mehr Schaden anrichten als der des Designers. Aber viele sind es nicht.“ Mit diesen denkwürdigen Worten leitete er sein Buch Design for the Real World: Human Ecology and Social Change ein (auf Deutsch: Das Papanek-Konzept. Design für eine Umwelt des Überlebens), mit dem er einen ganzen Berufszweig derart vor den Kopf stieß, dass ihn die US-amerikanische Vereinigung der Industriedesigner damals kurzerhand hinauswarf. Im Umkehrschluss plädierte er für einen grundlegenden Wandel im Gestalten von Dingen, weg von der Oberfläche, hin zu Fragen der Funktionalität. An die Stelle eines marktorientierten sollte ein soziales und humanitär ausgerichtetes Design treten, das gemeinschaftlich erfolgte, unter Einbeziehung der späteren Nutzer, und das demokratisch und in jeder Hinsicht inklusiv war.Alles außer FetischDie Ausstellung Victor Papanek: The Politics of Design im Vitra Design Museum in Weil am Rhein zeigt, dass seine Thesen im 21. Jahrhundert aktueller sind denn je. In einer Zeit, in der die Meere voller Plastikmüll sind und die gewinnorientierte Verwertungslogik die begrenzten Ressourcen der Erde immer rücksichtsloser und schneller ausbeutet, sind alternative und nachhaltige Modelle des Wirtschaftens gefragt, für die Papanek in seinen Schriften eine Blaupause geliefert hat. Dabei standen die beiden Kuratorinnen Amelie Klein und Alison J. Clarke vor der schwierigen Aufgabe, einen Einblick in die Gedankenwelt eines revolutionären Provokateurs zu geben, der selbst nur wenig Sichtbares in der Welt jener Gegenstände hinterlassen hat, die man gemeinhin in einem Designmuseum erwartet: Stühle vielleicht, Tische, Lampen oder andere Gadgets, die für die Zurschaustellung in Industriellenvillen oder Kreativbüros fabriziert werden. Mit gutem Grund: „Eine ganze Kategorie von Fetischobjekten ist für unsere Überflussgesellschaft der Schwachköpfe entstanden“, schrieb Papanek, und dabei würden die eigentlichen Grundbedürfnisse, nämlich Kleidung, Nahrung und Obdach, die nach wie vor einem Großteil der Menschen fehlten, missachtet. Somit führt die erste große Retrospektive, die diesem heute weitgehend unbekannten Designer und Designkritiker gewidmet ist, vom simplen Aussehen der Dinge direkt ins Herz der hoch komplizierten Frage, wie die Menschheit auf dem Planeten überleben und wie sie ihre zukünftige Welt gestalten kann.Papanek geht es ums große Ganze, und der Ausstellung auch. Die Besucher empfängt eine Medieninstallation aus Filmen, Interviews, Zeichnungen oder Zeitdokumenten, die sich an historischen Installationen des Medienkünstlers Stan Vanderbeek orientiert und die sofort in ein vielschichtiges Narrativ einführt, in dem sich Papaneks eigene Biografie mit der Design- und Weltgeschichte überlagern. Poster, Skizzen und Videos schlüsseln Leben und Werk anhand einer Zeitleiste anschaulich auf, wobei es um den Einfluss internationaler, vor allem skandinavischer Designvordenker wie Alvar Aalto geht. Aber auch um widerständige Theoretiker und Künstler wie Lewis Mumford oder Henry Miller und das aufrührerische kulturelle Klima, die Papaneks radikale Ansichten beeinflussten. Selbstbaumöbel und Lowtech-Kultur, die Do-it-yourself-Bewegung mit ihrer Bibel des Whole Earth Catalog, in dem die Verfasser ihren Mitstreitern „Zugang zu Werkzeugen“ verschaffen wollten, fanden in Papaneks Denken genauso Eingang wie dessen eigene anthropologische Reisen zu indigenen Kulturen. Er sammelte japanische Steckkämme, Angelhaken aus Papua-Neuguinea und Artefakte der Inuit. Umgekehrt entwarf er ein mit Rinderdung betriebenes Tin-Can-Radio, das aus einer leeren Getränkedose, Kupferdraht, Thermoelementen und einem gebrauchten Nagel bestand und das mithilfe der UNESCO in Schwellenländer Einzug halten sollte. Er entwickelte ein krudes geländegängiges Fahrzeug oder modulare, handkurbelbetriebene Kühlgeräte. Manches trug ihm den Vorwurf einer neokolonialen Denkweise ein, die von einer Überlegenheit westlichen Designs ausging, das ungeachtet des tatsächlich vorhandenen Bedarfs nur unter den Armen der Welt verteilt werden musste. Allerdings war Papanek zeitlebens ein guter Zuhörer, der an seinen Ideen mit seinen Studierenden arbeitete und auch gegenüber der Kritik jüngerer Generationen aufgeschlossen war. Manche zeittypische Haltung, die einer weiß und männlich geprägten Designkultur entstammte, überdachte und revidierte er manchmal – Genderfragen ausgenommen.Victor Papanek betrachtete den Designer vor allem als Vermittler in einem Team, das interdisziplinär arbeitet und einen systemischen Ansatz verfolgt, der alle Aspekte der Herstellung, Distribution und Nutzung eines Objektes berücksichtigt. Er gestaltete Lehrmittel, Krankenhausbedarf oder wandte sich explizit an Menschen mit Behinderung. Patente und Copyright-Richtlinien lehnte er ab, damit gilt er heute als Pionier der Open-Source-Bewegung. Gleichzeitig inszenierte er sich aber auch als Enfant terrible, dessen Fernsehshows und Buchkapitel Überschriften trugen wie: Möchten Sie ein verschwommenes Foto in acht Minuten?; Heute Abend kein Braten – die Lichter an meinem Tranchiermesser müssen neu ausgerichtet werden oder: Wo soll ich jetzt die Tasse herkriegen, da ich gerade die Suppe auf der Hand habe?“ Das lässt sich als Aufbegehren gegen eine kommerzielle Designpraxis interpretieren, die ihn in seinen Produkten eher nach Entstellungen und Störfaktoren suchen ließ. Seine aufblasbare Bettpfanne machte die Unansehnlichkeit zum Prinzip.Biotonne statt VitrinePapaneks Arbeit verwischt die Grenzen zwischen Design, Aktionskunst, Intervention und politischem Aktivismus. Wie sehr seine pionierhaften Ideen eines sozialen Designs und der Übernahme sozialer und ökologischer Verantwortung heute nachhallen, zeigt sich im vierten und letzten Raum, in dem die Ausstellung die biografische Linie verlässt und sich thematisch auffächert. Mit zeitgenössischen Kunstwerken, in denen es um digitale Transparenz, um Überwachung oder um synthetische Biologie geht, die an Papaneks Faszination für Bionik anknüpft. Fernando Laposse beschäftigt sich in seinem Werk Totomoxtle von 2017 mit der Zukunft der Landwirtschaft in Mexiko, indem er zusammen mit einem lokalen Kollektiv die bunten Hüllblätter vom Aussterben bedrohter Maissorten zu Boden- oder Wandbelag verarbeitet und zugleich ihr Saatgut konserviert. Das Werk Bomb Cloud Atlas von Forensic Architecture zeigt das 3-D-Druckmodell von Detonationswolken eines Bombenangriffs, der 2015 auf ein Flüchtlingslager nahe der türkisch-syrischen Grenze verübt wurde, als „flüchtige Architektur“. Victor Papaneks Gedankengebäude funktionieren selbst wie eine mysteriöse, von ihm ersonnene Vorrichtung, die, anstatt zu Designobjekten in Vitrinen zu gerinnen, Strahlen in die Zukunft aussendet. Im Zeitalter von Digitalisierung, Sharing-Systemen und Netzwerkdenken führen sie zu neuen, sicher auch von ihm ungeahnten Anwendungen, deren soziale Sprengkraft längst nicht erschöpft ist.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.