Die antike Skulptur hat die Jahrtausende selten unversehrt überdauert; meist fand man von den griechischen oder römischen Heroen und Göttern nur noch den Rumpf - mit abgeschlagenen Extremitäten. Massenhaft in Museen präsentiert, haben solche Menschenstümpfe auf mich immer den Eindruck eines Friedhofs gemacht, Schaubilder von Gewalt und Vergänglichkeit.
In Stuttgart ist nun eine ganze Säulenhalle von Torsi zu begutachten - allerdings nicht jene antiken Überbleibsel, sondern das, was die moderne Kunst (seit der Jahrhundertwende) mit dieser Form experimentell angestellt hat. Und das ist psychologisch natürlich hoch aufgeladen. Der Torso als Signum der Verstümmelung, aber auch der irgendwie strotzenden Leiblichkeit - zwischen diesen Spannun
en Spannungs-Polen muss der Ausstellungsbesucher sich zurechtfinden. Er kann die fein schwingenden, heute fast designerhaft wirkenden Formen eines Hans Arp in all ihrer Leichtigkeit auf sich wirken lassen, er wird aber auch die gepeinigten, nach unten hängenden Körperblöcke eines Alfred Hrdlicka ertragen müssen.Der Ausgangspunkt für die Ausstellungs-Kuratorin Kathrin Elvers-Swamberk war natürlich Rodin, der eine innere Stimme des Plastischen, des Körperlichen sichtbar machen wollte. Der Körper als purer Ausdruck, ohne mythologisches Sujet: Das war neu. Wie die Künstler nun aus Masse, aus Stein, Marmor, Gips eine Form holen und wie unser Bild vom Körper sich in den letzten 100 Jahren gewandelt hat, das kann man in dieser Ausstellung dann fast meditativ erfahren. Wir sehen die Versuche der Moderne, aus dem Körper-Zentrum, dem Rumpf noch so etwas wie verletzte, versehrte Identität zu gewinnen - bevor dann die Postmoderne alles wieder neu zusammenpuzzeln wird.Aber noch sind wir ja am Beginn des 20.Jahrhunderts: nach Aristide Maillols idealisierten glatten Körpern und den expressiv weggespreizten Brüsten des Henri Matisse geht es im Sturzflug in die Abstraktion: zu Alexander Archipenkos geometrisierenden Körper-Scheiben und zu den kühl geschliffenen Oval-Formen des Constantin Brancusi, bei dem die Äderung des Marmors, das Material also die kubistische Leiblichkeit, den Raum-Eindruck erst erzeugt. Etwas traditioneller Wilhelm Lehmbruck, der seinen Mädchenkörper aus Stuck aber rot übermalte.Den nächsten Schritt machte der Eulenspiegel Hans Arp: Zunächst schraubte er kurz mal Holzstücke zu einem Bauchnabel-Torso zusammen - und dann komponierte er in den dreißiger Jahren jene makellos weißen, rhythmisierten, dünen- oder wellenartig schwingenden Körperlandschaften, die uns in Erinnerung rufen: Körper heißt Bewegung, vielleicht sogar Musik, Anmut, Grazie. Wer sich den eigenen Corpus im Alltagstrott nur noch dienstbar macht, steht etwas beschämt vor solchen Erfindungen.Dann aber sieht man plötzlich Torsi als ausgelaufene Wärmflaschen oder als sackartige Kissen mit doppelgeschlechtlicher Brustpartie oder als bandagierte Tuben. Rachel Whiteread, Robert Gober und Jürgen Brodwolf, von denen diese Objekte stammen, gehören am Ende des Jahrhunderts zu einer ganz anderen Fraktion - der Körper wird disponibel im Spiel der Zeichen, er wird zum Gegenstand surrealer Verfremdung, und das spiegelt natürlich auch seine Entwertung, sein Verschwinden im gesellschaftlichen Prozess. Oder, nochmals ganz anders, Alfred Hrdlicka, Michael Schoenholtz und Gustav Seitz: das sind die Passions-Spieler, die großen Leidens-Schilderer, die Vergänglichkeits-Beschwörer. Bei Schoenholtz werden die Torsi noch einmal in einzelne Gliedmaße zerlegt, Hrdlicka reißt die marmornen Menschenleiber wüst auf, der schon 1969 gestorbene Gustav Seitz zeigt uns einen tumb dasitzenden, voluminösen, geschlagenen Catcher mit porösem Bauch. All das kann man als späte Resonanz auf die industrielle Menschenvernichtung der Nazis lesen, aber auch als Antwort auf die schleichende Körper-Vernichtung in der Gegenwart. Die Hochglanzleiber der Werbe-Industrie sind ja nur Dekoration.Die Ausstellung hat historisch und stilistisch eine unglaubliche Bandbreite. Man kann einen lächerlichen Mini-Torso von Joseph Beuys dort sehen, der in eine Schraubzwinge gespannt ist, oder eine leere Rüstung des in Deutschland leider unbekannt gebliebenen Julio Gonzalez, einen gehämmerten und geschmiedeten und dabei ganz leicht wirkenden weiblichen Bauch-Panzer, Körper-Umhüllung statt Körper-Masse. Die Antwort, die Gegenposition kommt von dem Wiener Sechziger-Jahre-Star Fritz Wotruba: massive, tonnenhafte stereometrische Torsi, festgefügte abstrakte Volumen.Und natürlich wollen die Stuttgarter zum Schluss den Bogen in die Gegenwart spannen - folglich präsentiert man, mehr oder weniger sakral inszeniert, die neuen Wilden und Möchtegern-Archaiker, also Baselitz, Lüpertz, Kirkeby und Günter Förg. Von Per Kirkeby gibt es einen Menschentorso, der wie eine zerklüftete Wand aussieht, von Baselitz einen behauenen und mit blutiger Farbe beschmierten Lindenholz-Klotz, und von Markus Lüpertz ein riesenhaftes, sechs Meter hohes und zwei Meter breites Torso-Monument, eine wuchtige Muskelmasse, eine Ballung verfremdeten Fleisches.Der kunsthistorische Anregungs-Stoff der Ausstellung ist beträchtlich, das sozialpsychologische Fazit dagegen fällt ernüchternd aus: Die neue Leiblichkeit, die hier angeblich ins Blickfeld gerückt werden sollte, die räkelt sich doch eher in den Talk-, Container- und Erotik-Shows des Fernsehens. Die Kunst aber zeigt, dass der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts nicht ganz bei sich ist - oder jedenfalls, trotz aller Fitness-Studios, nicht in seinem Körper."Von Rodin bis Baselitz - Der Torso in der Skulptur der Moderne". Staatsgalerie Stuttgart, bis 19. August. Katalog 34 Mark.
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