Lafontaine hat ein Signal gesetzt, dessen Sinn schon ohne seine Erklärung vom Sonntag absolut deutlich war. Jetzt wissen wir, was gespielt wird. Man war aus dem Charakter der rot-grünen Regierung auch nach hundert Tagen nicht schlau geworden. »Zweideutigkeit« war der einzige Begriff, der zur präzisen Beschreibung taugte. Was bedeutete des Kanzlers Konsensstrategie? Der Spiegel schafft es noch am Montag, die Sache zu vernebeln: »Schröder ist anders als Lafontaine auf Konsens orientiert, mit der Wirtschaft, mit der Bevölkerung.« Die Frage ist doch, ob die Wirtschaft als Teil der Bevölkerung behandelt wird, so daß Konsensermittlung sie zwingt, sich der Mehrheit der Bevölkerung unterzuordnen, oder ob das Kapital der jenseitige Gott de
tige Gott der Bevölkerung ist, in welchem Fall Regierung und Bevölkerung sich ihm aufzuopfern haben, und zwar freiwillig. Freiwilligkeit kann bereits mit Konsens verwechselt werden, aber hier haben wir es nicht mit einer Konsens-, sondern mit einer Kommunionsstrategie zu tun.Schröder hat den Rubikon überschritten. Am Mittwoch voriger Woche teilte er mit, daß er nicht vorhabe, etwas gegen den Willen »der Wirtschaft« zu tun. Gemeint waren nicht etwa die Werktätigen, an die ein SPD-Kanzler zuerst denken sollte, gemeint war auch nicht der Mittelstand, den Lafontaine in seiner Steuerreform um fünf Milliarden DM entlastet. Nein, der Kanzler reagierte auf den Protest der Versicherungswirtschaft und des großen Atomkapitals gegen die Streichung ungerechter Steuererleichterungen. Am Tag danach trat Lafontaine zurück. Am selben Donnerstag konnte man lesen, daß Schröder seine EU-Ratspräsidentschaft dazu mißbraucht hatte, eine von den europäischen Umweltministern schon gebilligte Auto-Altlastenregelung zu stoppen, und zwar warum - er hatte einen Brief vom VW-Chef Piëch erhalten. Schröder ist nicht nur Automann, er präsentiert sich ganz allgemein als der Büttel der Großkonzerne. In den »hundert Tagen« war dieser eiserne Kanzlerwille durch Lafontaines Mitarbeit nicht nur maskiert, sondern auch real entkräftet worden. Die politische Initiative hatte bei Lafontaine gelegen. Schröders Kanzleramt intervenierte zwar ständig, konnte aber nicht sofort die ganze Bewegungsrichtung umkehren. Das ist jetzt geschehen - Lafontaine trat zurück, um Klarheit hierüber herzustellen.Man muß also die Frage noch einmal neu stellen, in welcher Welt wir seit dem Regierungswechsel leben. Die Steuerpolitik gibt uns den Anhaltspunkt. Jetzt ist schlagartig von weiteren massiven Steuererleichterungen für das Kapital auf Kosten des Rests der Bevölkerung die Rede. Diese Erleichterungen seien durch eine massive Erhöhung der Mehrwertsteuern zu finanzieren, wird schamlos verkündet. Befragt, ob somit die SPD nicht einfach die Politik der Kohl-Regierung fortsetze, antwortet Rudolf Scharping: Die Kohl-Regierung habe ja nur geredet und nichts getan. Damit nimmt der Wahlsieg der SPD vom September eine neue Bedeutung an: er wurde nötig, weil Kohl von der SPD-Mehrheit im Bundesrat blockiert worden war, denn das war der einzige Grund, weshalb Kohl »nichts tat«; die SPD wollte dasselbe wie Kohl, will es aber selbst machen. Freilich, Lafontaines Politik war das nicht. Lafontaines Politik war gegen Steuererleichterungen fürs Kapital, die vom Rest der Bevölkerung bezahlt werden sollten, gerichtet. Knapper gesagt, kämpfte er gegen Ausbeutung. Gegen die ungeheure Verschärfung der Ausbeutung in den letzten zehn Jahren. Zu Beginn des Jahres 1995, in dem er die Führung der SPD übernahm, konnte man feststellen, daß in vier Jahren davor die Steuerzahlung der Unternehmer um beinahe zwölf Prozent verringert, die der Arbeitnehmer um 37 Prozent erhöht worden war. Das sollte immer so weitergehen. Die Politik konnte dagegen angeblich nichts tun. Wäre es Lafontaine nicht gelungen, das Ereignis dieses Raubzugs im Bewußtsein der Öffentlichkeit zu verankern, wäre Schröder niemals Kanzler geworden. Jetzt stellt Schröder sich selbst an die Spitze der Ausbeuter. Die SPD unter seiner Führung hat die Wähler belogen. Seine Kanzlerschaft ist ohne Legitimation. Er müßte zurücktreten und Neuwahlen ausschreiben lassen. Da er es nicht tut, ist er nicht besser als irgendein Putschist.In welcher Welt leben wir? Erst kommt das Großkapital, dann alles andere. Und das wird offen gesagt. Man erschrickt, wenn man das niederschreibt, fällt einem doch Dimitroffs Faschismusanalyse dazu ein: Dimitroff hatte den Faschismus als »offene terroristische« Diktatur des Finanzkapitals definiert. Das läßt sich nicht übertragen, Schröder ist ja kein Faschist. Außerdem gibt es keine »offene« Herrschaft, die nicht zugleich ideologisch verhüllt wäre. Der Begriff »offene Diktatur« hat aber trotzdem einen Sinn - der bei Dimitroff nicht deutlich wird -: er bezeichnet nicht die Ehrlichkeit, sondern die Unmittelbarkeit einer Herrschaftsausübung. In einem solchen Fall gibt das Großkapital zu erkennen, daß es selbst direkt herrschen will, es findet Politiker, die sich das zueigen machen. Ihre Politik gelangt gegen den Willen der Bevölkerung an die Macht. Das ist »offene Diktatur«. Diese Diktatur muß nicht immer in der Art des klassischen Faschismus ausgeübt werden. Nur so viel gilt allgemein, daß »offene« Kapitalherrschaft etwas anderes ist als Parlamentarismus. In diesem Sinn muß gefragt werden, ob wir heute wieder Zeitzeugen des Übergangs in ein anderes Regierungssystem sind. Hat es schon jemals einen Kanzler der Bundesrepublik gegeben, der offen gesagt hat, er werde nichts gegen das Kapital tun? Natürlich waren sie faktisch seit Adenauer Kapital-Büttel. Aber auf den Unterschied von faktisch und »offen« kommt alles an. Wenn sich der Kapitalwille faktisch durchsetzt, zeigt das, es ist dem Kapital gelungen, den Parlamentarismus für seine Zwecke zu mediatisieren. Das muß ihm nicht gelingen. Das kann schief gehen. Das Parlament weiß meistens ja gar nicht, wie ihm geschieht. Wenn es einmal Lunte zu riechen beginnt, versucht das Kapital die »offene« Herrschaft.Wie diese heute aussähe, hatte sich kurz vor Lafontaines Übernahme der SPD-Führung schon abgezeichnet. Dahin muß man also zurückblicken. Nach Schröders Wählerbetrug sind wir auf Anfang 1996 zurückgeworfen. Wir setzen den Marsch in eine Republik fort, die das Parlament durch mehrheitsfeindlichen Korporatismus und eine »Mediendemokratie« entmachtet. Schröder ist nicht Danton, sondern Berlusconi. Die Medien sagen längst ganz »offen«, daß Schröder und Fischer ihre Parteien vernichten und ersetzen und nicht etwa repräsentieren sollen. Fischers Kampf gegen grüne Doppelspitzen zeigt jetzt erst seinen Sinn, nachdem Schröder die Doppelspitze mit Lafontaine durch ständigen Bruch von Verabredungen zerstört hat. So bereitet man eben eine Diktatur vor. Und da ist es kein Wunder, daß die Medien und die »Realos« so tun, als hätten die Grünen gar nicht zu erkennen gegeben, daß sie gegen die Abschaffung der Doppelspitzen sind. Was die SPD und die Grünen denken, spielt überhaupt keine Rolle. So war es Anfang 1995: die Medien bescheinigten den »Realos«, in der Partei gesiegt zu haben, weil »schon« eine »deutliche Minderheit« hinter ihnen stünde; auf dieser diktatorischen Grundlage stimmten die »Realos« im Parlament für den Bundeswehreinsatz out of area.Lafontaine, der diese Tendenz aufhielt, ist wie nie gewesen. Haß und Lügen werden ihm nachgegossen. In Springers B.Z. geifert Professor Michael Wolfssohn, es sei dem Saarländer ja schon immer um »Fressen, Saufen, Vögeln« gegangen. Am selben Tag die taz: »Toskana, ich komme.« Die Grünen behaupten, Lafontaine habe nur den »ersten Schritt« der Steuerreform getan, nämlich die kleinen Leute zu entlasten, jetzt komme der »zweite Schritt, die Wirtschaft zu entlasten«. Eine krasse Lüge. Die Grünen selbst wollten viel radikaler mit ungerechten Steuererleichterungen für Großkonzerne aufräumen als Lafontaine. Jetzt billigen sie Schröders Verteidigung dieser Subventionen. Sie sind alle zur Kenntlichkeit entstellt. Aber daß Lafontaine gewesen ist, können sie nicht verhindern. Er hat gezeigt, daß man das Großkapital entmachten könnte. In wenigen Jahren wurde es trotz »Mediendemokratie« in die Defensive gedrängt. Zuletzt hat er noch gezeigt, daß Macht nicht notwendig korrumpiert. So müssen wir zwar wieder ganz von vorn anfangen, aber mit viel mehr Hoffnung, als Anfang 1995 realistisch gewesen wäre.Weitere Artikel zu diesem Thema:Günter GausZäsurJosef NeuserDer Bundestag als AufsichtsratIm GesprächSozialpolitik ist kein RestpostenWieland ElfferdingWenn die Opposition mitregiertAndreas WehrSo oder so: normal
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