Junge Syrer haben in Sofia Zuflucht gefunden. Bulgarien ist als Aufnahmeland mehr gefordert als andere osteuropäische Staaten
Foto: Nikolay Doychinov/AFP/Getty Images
Als in den frühen 80er Jahren linke Aktivisten davor warnten, dass Kriege und soziale Verwerfungen auf dem „Trikont“ – wie es damals hieß – demnächst in die Zentren zurückkehren werden, hielt man dies für radikalen Agitprop. Als Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi sein autokratisches Herrschaftsmodell als Garant für eine migrationspolitische Stabilität in Nordafrika pries und im Fall seines Sturzes den Kollaps staatlicher Strukturen und Chaos prophezeite, hielt man dies für die Drohgebärde eines manisch-depressiven Irren. Er sollte allerdings recht behalten. Von willigen Koalitionen betriebene Kriege und nach neuen Märkten suchende Exportoffensiven haben zu einer weltweit immer ungleicheren Verteilung von Ressource
rcen geführt. In den Zentren Nordamerikas und Westeuropas hielt man sich jahrelang an die positive Botschaft: Bomben würden schließlich im Interesse von Demokratie und Menschenrechten fallen, und wirtschaftliche Offensiven brächten Wohlstand für alle.Begehrter NordenBeides traf nicht zu – tatsächlich hat der Verlust von immer mehr Staatlichkeit rund um Europa die Menschen mobilisiert: In Syrien, im Irak und Jemen laufen sie vor Bomben, Drohnen, Kampfjets und Terror davon; an den Küsten Afrikas nehmen ihnen westeuropäische und japanische Fischfangflotten die Lebensgrundlagen, in der Sahelzone beschleunigt der Cash-Crop-Anbau (ökonomisch schnell verwertbare Agrarkulturen) großer Konzerne die Desertifikation ganzer Landstriche, auf denen Leben nicht mehr möglich ist. Millionen schlägt das in die Flucht, doch bleiben die sozioökonomischen Gründe weitgehend ausgeblendet. Dafür haben sich multiple und wechselnde Streitfronten um die Aufnahme der Schutzsuchenden gebildet und drohen die Europäische Union zu zerreißen.Mitte September 2015 trafen sich die EU-Innenminister in Brüssel, um einen Verteilungsschlüssel für Flüchtlinge zu beschließen, die in Griechenland oder Italien erstmals EU-Boden betreten. Anfangs war von 120.000, später von 160.000 Menschen die Rede. Sogleich gab es Widerspruch durch die Slowakei, Rumänien, Tschechien und Ungarn, das mit seinem Grenzzaun auch physisch demonstrierte, was es von der Merkel’schen Willkommensbotschaft hielt. Finnland weigerte sich, unter den gegebenen Bedingungen mitzumachen, Polen wiederum signalisierte Bereitschaft, die sich aber seit dem Wahlsieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Oktober 2015 weitgehend erledigt hat.Placeholder infobox-1Als dann Frankreich im Februar 2016 ein eigenes Flüchtlingskontingent ablehnte, war die Idee tot. Nationale Panik ersetzte gemeinsames Vorgehen. Österreich beschloss tägliche Obergrenzen bei der Einreise und begann, auf eigene Faust einen diplomatischen Vorstoß entlang der Balkanroute. Außenminister Sebastian Kurz erwählte Mazedonien zum Schleusenland, ohne sich mit Griechenland darüber abzustimmen. Zigtausende Flüchtlinge stranden seither in Griechenland, wo in den Medien das deutsche Feindbild Zug um Zug durch ein österreichisches abgelöst wird. Mit Mazedonien liegt Athen ohnedies seit Jahren im Clinch, sichtbarster Ausdruck davon ist der Namensstreit: Athen zwingt Skopje in einem seltenen Akt der Demütigung, sich auf internationaler Bühne „Frühere jugoslawische Republik Mazedonien“ (FYROM) zu nennen.Die ständigen gegenseitigen Ermahnungen, in der Flüchtlingsfrage nationale Alleingänge zu meiden, lassen vergessen, dass das Flüchtlingsmanagement von Anfang an jede Koordination vermissen ließ. Die Willkommensbotschaft der deutschen Kanzlerin war mit keinem Nachbarn abgesprochen. Sie war, wenn man so will, ein nationaler Alleingang. Der Einzige, der daraufhin nach den Buchstaben der Dubliner Übereinkommen (Dublin I und Dublin II) korrekt, wenn auch brutal reagierte, war Ungarns Premier Viktor Orbán. Sein Zaun garantiert heute, dass nicht alle Asylsuchenden, die Deutschland ablehnt, automatisch nach Ungarn rückgeführt werden. Ungarn wäre das Land, in dem ein nicht asylberechtigter Flüchtling erstmals EU-Boden betreten hätte, weil Griechenland einer eigenen Verordnung wegen von Rückführungen innerhalb der EU ausgenommen ist. Zur Kritik an seinem Zaun bemerkte Orbán trocken, die Flüchtlingsfrage sei ein deutsches Problem. So vollkommen unrecht hat er damit nicht.Verschmähtes GabčikovoDas völlige Scheitern der Verteilung nach dem Muster einer Kontingentlösung führt zur entscheidenden Frage, warum es überhaupt zu diesem Zug der Asylsuchenden entlang der Balkanroute in Richtung Norden – nach Schweden, Dänemark und Deutschland – kommt. Zwar ist jeder und jedem klar, dass dies mit der ökonomischen Lage und noch mehr mit den dortigen sozialen Leistungen zu tun hat, aber medial und politisch transportiert wird diese Binsenweisheit allenfalls auf der Rechten mit rassistischem Unterton. Die Meinungsbildner schieben lieber Argumente wie die angeblich starke Ausländerfeindlichkeit vor, die im Osten Europas herrschen würde. Wer sich freilich brennende Asylheime und von Rechtsradikalen umstellte Busse voll schreiender syrischer Kinder in Deutschland und Schweden in Erinnerung ruft, muss an solchen Erklärungen zweifeln. Es geht vielmehr um harte sozioökonomische Fakten.1.473 zu 184 – dies ist nicht das für eine Spielsaison hochgerechnete Resultat zweier Basketballmannschaften, sondern laut EU-Statistikbehörde Eurostat der Unterschied im monatlichen Mindestlohn zwischen Deutschland und Bulgarien im Jahr 2015 in Euro. Das heißt, für un- oder schlecht qualifizierte Arbeit erhält man in Deutschland acht Mal so viel Geld wie in Bulgarien. Entlang der Balkanroute betragen die Mindestlöhne zur Zeit 683 Euro in Griechenland, umgerechnet 213 Euro in Mazedonien, 235 in Serbien, 395 in Kroatien und 332 in Ungarn. Der – verglichen mit Deutschland – „nur“ halb so niedrige Mindestlohn am Peloponnes täuscht, denn der ökonomische Niedergang Griechenlands mit einer Arbeitslosenquote von offiziell 25 Prozent lässt Flüchtlinge dort keine Jobs finden.Auch das jährliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) spiegelt die extreme Differenz zwischen reichem Norden und einem armen Süden wider. Dieses lag 2015 – pro Kopf gerechnet – in den attraktivsten Zielländern der Hilfesuchenden wie Schweden und Dänemark über 60.000 Euro, in Österreich und Deutschland bei 50.000, während es in Mazedonien 5.000 Euro und entlang der Balkanroute zwischen 7.000 und 13.000 Euro beträgt. Wenn man dann noch die unterschiedlich hohen Sozial- und Grundsicherungsleistungen bedenkt und weiß, dass auch diese Differenz zwischen 1:10 und 1:5 liegt, dann werden die Fluchtrouten Richtung Norden verständlich.Österreich machte diesbezüglich gleich zu Beginn der Flüchtlingskrise eine eindrückliche Erfahrung, als ein Abkommen zwischen Wien und Bratislava umgesetzt werden sollte. Die Innenministerien beider Länder vereinbarten Mitte 2015, 500 syrische Flüchtlinge, für die im Aufnahmelager Traiskirchen kein Platz war, zeitlich befristet in einer leer stehenden Einrichtung im slowakischen Gabčikovo unterzubringen. Die Asylverfahren selbst sollten weiter von österreichischen Behörden betrieben werden.Allein, als alles vorbereitet war, fanden sich nach mühsamer Suche gerade einmal 50 Syrer, die freiwillig in die Slowakei gehen wollten. Was zunächst einmal nichts mit den Protesten der lokalen Bevölkerung im slowakischen Gabčikovo zu tun hatte. Dass sich so viele Flüchtlinge verweigerten, war ihrer Angst geschuldet, damit ihre Chance auf eine bessere – sprich: sozial abgesicherte – Zukunft anderswo in Europa zu verpassen.Es wäre an der Zeit, die Flüchtlingskrise nicht ausschließlich im Spannungsfeld von Hilfeleistung und Abschottung zu diskutieren, sondern eine strukturelle Erklärung zu finden, die weltregionale Disparitäten als Auslöser und innereuropäische soziale Unterschiede als Verteilungshindernis in den Blick nimmt.Placeholder authorbio-1
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