Wenn ein Autor in die Jahre kommt, wird von ihm ein Spätwerk erwartet, ein allegorisches Welträtsel oder doch zumindest ein Blick auf die zurückliegende Epoche, wie sie sich von der Höhe des angesammelten künstlerischen Erfahrungsreichtums aus darstellt. Wer könnte diesen Erwartungen besser gerecht werden als Peter Hacks, dessen dramatische Produktion sich seit 1991 auf zehn Stücke beläuft, die jetzt in einer zweibändigen Ausgabe in der Edition Nautilus herausgekommen sind? Schließlich hatte sich Hacks bereits in der DDR in jene luftigen Höhen geschrieben, die politische Ereignisse in einem milden Lichte erscheinen lassen; klassische Künstler wie er erkennen ihre Zeit, und als stilbewußte Artisten bringen sie sie in eine Form
orm, die den Zeitgenossen Erkenntnis und Genuß verspricht. Wer also als der Klassiker Hacks ist ästhetisch besser gerüstet, um der deutschen Vereinigung ihren Schrecken zu nehmen?Zunächst einmal verliert die politische Wende von 1989 ihre Aura der singulären politischen Begebenheit, denn in dem Stück Genovefa bezeichnet sie nur einen Teil einer langen Geschichte. Genovefa, Pfalzgraf Siegfried, ihr gemeinsames Kind Schmerzensreich und die zugehörigen Kämmerer, Truchseß und Burghauptmann sind Allegorien aus der Rüstkammer germanischen Wesens. Genovefa sorgt sich um die Kriegsopfer. Emphatisch stellt sie die ansonsten verkümmerte Solidarität mit den Opfern dar, aber in den internen Machtkämpfen unterlegen, entgeht sie nur knapp dem Tod. Held Siegfried dagegen repräsentiert die Macht in ihren jeweiligen zeitgemäßen Varianten. Zu Beginn des Schauspiels ein Warlord, reift er zu einem klugen Taktiker, der so zweckrational handelt, wie es die Regeln des Machterhalts vorschreiben. Im Spiel um die Macht sind die Mitspieler Figuren in einem ständigen Positionsgefecht, und in Zeiten, da die Macht gefestigt ist und das Alter fortgeschritten, erlaubt sich der Herrscher philosophische Exkurse. »Die Grundentscheidung, die zu treffen die Welt uns aufgibt, lautet: Läßt sich die Menschheit einrichten?« nach dem Ende blutiger Machtkämpfe genehmigt sich der Sieger gern den mit einer noblen Prise welthistorischer Melancholie angereicherten Zynismus unangefochtener Macht. Die Figur des amateurphilosophischen Despoten scheint an Friedrich II. angelehnt, Genovefa an Rosa Luxemburg. Oder ist vielleicht doch die jüngere deutsche Geschichte gemeint und der Konflikt des empathischen und des machiavellistischen Prinzips seit 1989? Allegorien enthalten mehrere mögliche Bedeutungen, so daß die Suche nach Deutungsmustern und Entsprechungen in der Realität findigen Lesern vorbehalten bleibt.Bereits in der DDR wurde gefragt, ob die Dramenproduktion von Peter Hacks nicht in klassischen Höhen angelangt sei und die Stücke so geräumig sind, daß alles hineinpaßt und gar nichts mehr drinsteckt. In der DDR hatte sich Hacks zunehmend von den Alltagsproblemen abgewandt, von Brecht und der plebejischen Tradition hin zu Goethe. Die »späten Stücke« entstanden zwischen 1991 und 1996 und geben Antwort auf die Frage, ob Hacks vollständig in höhere Sphären entschwunden ist oder noch unter uns weilt. Genovefa jedenfalls spielt auf einem Hochplateau der Abstraktion, und doch vermeidet Peter Hacks hier die Erstarrung der klassischen Pose, denn seine Dramatik beruht auf dem Prinzip intellektueller Beweglichkeit. Brecht forderte in der Heiligen Johanna die Zuschauer auf, sich einen guten Schluß zu suchen, Hacks versteht in seinen späten Dramen den Text als Anleitung, die Geschichte durcheinanderzubringen und sich möglichst einen Reim drauf zu machen. Seine Theaterstücke imaginieren nicht einfach eine bessere Möglichkeit gegenüber einer schnöden und miserablen Wirklichkeit, sondern nehmen die Welt, wie sie ist; nur die zu ihr gehörigen Gedanken und Haltungen haben auf der Höhe der Zeit zu sein.In Genovefa entfaltet sich ein allegorisches Spiel, in Fafner, die Bisam-Maus eine konkrete Wende-Geschichte. Ein Alteigentümer macht einem Hausbesitzer das Leben sauer und beruft sich dabei auf vor langen Jahren festgelegte Rechtsansprüche. Aber wer jetzt denkt, schlicht einen Fall aus der jüngsten Ost-West-Geschichte dramatisiert zu bekommen, sieht sich getäuscht. Das Motiv ist zwar den juristischen Querelen der letzten Jahre entnommen, aber in dem Lustspiel in 3 Akten wird es zu einem ästhetischen Motiv und entwickelt ein beachtliches künstlerisches Eigenleben. Es wird Ausgangspunkt zahlreicher Wendungen und gibt den Anlaß zu subversiven Manövern und unerwarteten Vorkommnissen. Dem Alteigentümer wird in Nibelungenkostümen eine Komödie vorgespielt, doch irgendwann sind die Beteiligten erschöpft und gründen in dem umkämpften Haus eine gesamtdeutsche Wohngemeinschaft. Verblüffend jedoch ist nicht etwa dieser Ausgang, sondern die ständigen Änderungen des Handlungsablaufs; spontan auftauchende Urkunden, zahlreiche Versuche, den Alteigentümer wegzuekeln, bereiten den Boden für eine auf vertrackte Art offene Kunstproduktion. Nichts ist statisch in diesem Lustspiel, so daß der Leser sich wie ein Fußgänger in einer unbekannten Stadt vorkommt, einer, der nicht weiß, mit welcher Situation er an der nächsten Straßenecke konfrontiert sein wird, der aber durch seine Geistesgegenwart die Situation meistert. Wenn es eine Geschichtsphilosophie des Stückeschreibers Hacks gibt, dann liegt sie in der Forderung, auf gebildete und listige Art auf dem historischen Quivive zu sein.Hacks' Sprachwitz, seine Vorliebe für lakonische Pointen und prägnante Spruchweisheiten entsprechen diesem Programm. »Keiner ist so verrückt, daß er nicht gelegentlich vorkäme«, heißt es, und »Seine Verräter kennen will nur der Schwache«. Manche Sätze könnten glatt im Faust oder im Zitatenlexikon »Deutsche Klassik« stehen, und doch verbirgt sich hier ein Goethe, der seinen Brecht gelesen hat und der es bedauert, daß Brecht nicht in Hollywood einen Film mit den Marx-Brothers gedreht hat, denn wer, wenn nicht Groucho Marx, war zuverlässig auf dem Quivive?In Der Maler des Königs geht es um intellektuelle Krisenerfahrungen. Boucher war der Hofmaler Ludwigs XV., aber unter dessen Nachfolger muß er die bittere Erfahrung machen, daß Odalisken und schöne Hintern megaout sind. Misanthropisch hockt der alte Boucher in seinem Loch und muß zusehen, wie Konkurrenten die neuen Moden bedienen und dabei reich werden, wohingegen sein Versuch, einem Bäcker das mit einer Semmel bemalte Ladenschild für ein Brot zu verkaufen, scheitert. »Ich habe Ludwig XV. die Gnade erwiesen, mich sehen zu lassen«, redet sich der gewesene Hofmaler seine vormalige Abhängigkeit schön, und hat doch in seiner mäkeligen Mansardenexistenz die unabhängigste seiner bisherigen Lebensformen getroffen.Nicht um Konkurrenzen und Konjunkturen, sondern um das harmonische Treffen von Intellektuellen geht es in dem Dramolett Die Höflichkeit der Genies. Albert Einstein repariert die Türklingel im Hause Menuhin, wofür im Gegenzug der berühmte Musiker den Physiker mit einem privaten Geigenkonzert beglückt. Vor dem Hintergrund der Nachwende-Streitkultur west- und ostdeutscher Intellektueller hat Hacks ein herrlich komisches Märchen geschrieben, das den Nachgeborenen ein schwer wiederholbares Beispiel vor Augen stellt, wie doch seinerzeit ein rücksichtsvoll-höflicher und pfleglicher Umgang das Leben erleichterte.Das kleine Stück illustriert mustergültig, wie aus einer abgeklärten Perspektive heraus die Gegenwart auf die Bühne gebracht werden kann. Dieses Verfahren funktioniert nicht immer, denn es finden sich auch Beispiele, in denen die historische Erfahrung so verdünnt ist, daß nur abstrakte Muster produziert werden, wie in der Trilogie, die mit Motiven aus der Geschichte russischer Staatsgründungen die Kunst der Machtausübung beschreibt. Aber wenn Peter Hacks die kümmerliche Gegenwart nicht völlig vernachlässigt, zählt er zu den Autoren, von denen sich der Leser, der zu sehr an der Gegenwart klebt, auf historische Ab- und Umwege führen lassen sollte, denn selbst, wenn der Nutzen nicht auf den ersten Blick erkennbar ist - langweilig wird's nie. Peter Hacks: Die späten Stücke, Band I und II, Edition Nautilus, Hamburg 1999, 232 und 218 S., jeweils 49,80 DM.
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