Dionysos Draussen

Sportplatz Kolumne

In seinem Buch Lob des Sports adoptiert Hans Ulrich Gumbrecht eine Unterscheidung Nietzsches, nämlich die zwischen "apollinisch" und "dionysisch" gesinnten Zuschauern. Während der apollinische Sport-Fan sich durch eine distanzierte Haltung und analytischen Blick auszeichnet und Taktik, Form und Ästhetik des Spiels genießt, stürzen sich die Anhänger des Dionysos ins Getümmel, suchen Entgrenzung und Rausch. Gumbrecht gibt selbst zu, eine etwas "romantische" Perspektive einzunehmen, und in der Tat trifft seine Typisierung nicht mehr recht die aktuelle Lage. Denn ausgerechnet dem unseligen Pay-TV ist eine Entwicklung zu verdanken, die in den letzten Jahren weitab der Stadien zu einer Vergemeinschaftung und Popularisierung des Fußballs führte. Statt der beabsichtigten heimischen Isolation zahlender Fernseher entstanden unzählige öffentliche Orte, von der Premiere-Sportbar an der Ecke über das Café mit Bildschirm bis zum Fan-Szenetreff, an denen Bundesliga und Championsleague gezeigt werden. Erfreulicherweise stellte sich heraus: gemeinsam gucken macht mehr Spaß. Diesem Trend kamen gewissermaßen von der anderen Seite Erscheinungen wie die Event-Kultur, der Starrummel um Sportler und die gnadenlose Vermarktung des Sports entgegen, öffentliches Fernsehen, Großleinwände wurden immer populärer. Dabei muss das Massen-Sehen nicht dionysisch wirken und der Sport nicht mal wirklich im Zentrum stehen, um das gemeinsame Erlebnis geht es vor allem.

Zum Mega-Event Weltmeisterschaft bietet das sonnige Berlin eine Vielzahl von Orten, an denen öffentliches Fußballschauen auf verschiedene Weise zelebriert wird. Die massigste Variante ist auf der Fan-Meile zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule zu haben, denn diese einmalige Einrichtung zur Entschädigung kartenloser Fans soll über 300.000 Besucher fassen. Hier können alle Spiele umsonst und draußen auf Großbildleinwänden verfolgt werden, und angrenzende Tiergartenteile sind zum Ausruhen auf der Wiese großzügig eingemeindet worden. Zwischen den Leinwänden und Spielübertragungen regiert der Kommerz: Fanausrüstung und internationaler Unfug werden massenweise angeboten. Zeitvertreib bietet auch jede Menge Sponsorengedöns, ein Computerhersteller lädt in einem ballartigen Gebilde zum Herumspielen an Geräten ein, eine bekannte Kreditkartenfirma offeriert das eigene Konterfei mit Pelé oder Klinsmann. In den Spielpausen nerven dröhnende Werbespots und die Dauerbespaßung vor dem Brandenburger Tor: Sponsoren verlosen Tickets (die manch einer gerne gekauft hätte) an Leute, die sich auf der Bühne blöde Fragen stellen lassen. Zum Eröffnungsspiel ist die Meile voll und die Stimmung gut. Das Publikum ist anfangs recht gemischt, beim Anpfiff allerdings dominieren jugendliche Menschen in Deutschlandtrikots. Die sind überwiegend fröhlich, vor allem als Lahm, Klose und Frings ins Tor treffen. Ein wenig bierdumpfig ist die Atmosphäre schon, vor allem wenn Sprechchöre ertönen: "Steh´ auf, wenn Du Deutscher bist". Hier geht es mitunter ebenso dionysisch zu wie im Stadion, für viele ist aber dennoch das Wichtigste, einfach dabei zu sein.

Ganz anderes hat ein Ort zu bieten, der immerhin auch 25.000 Menschen zu fassen vermag, beim "PopKick" im Treptower Park wird Fußball zum Happening. Für moderate drei Euro gibt es Liveübertragung und Livemusik. Auf der riesigen Wiese geht es am Samstagnachmittag sehr entspannt zu, die Menge lagert vor dem Großbild, drumherum fliegen Frisbees und natürliche viele Bälle. Das Publikum ist jung, auch die Jüngsten sind reichlich vertreten, vermutlich weil Kinderbetreuung angeboten wird. Die Gewandungen sind bunt, die brasilianischen Farben dominieren, englische und schwedische T-Shirts erfreuen sich einiger Beliebtheit, aber auch interessante Embleme verschiedenster Freizeitkicker sind zu sehen. Tore und gute Spielzüge werden genauso freundlich bejubelt wie die zwischen den Spielen auftretenden Bands. Hier ist Fußball der momentan angesagte Anlass, zusammenzukommen und eine gute Zeit zu haben. Fußball-WM in Deutschland: Karten fürs Stadion haben die wenigsten ergattert - doch so schlimm ist das mitunter gar nicht, man kann ja zusammen draußen bleiben.


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