Im Dezember 2003 will sich ein alter Mann auf der Küstenstraße zwischen Monterey und Cambria von einer Brücke vor der nahenden Demenz flüchten. Da werden Brücke und alter Mann von einem Erdbeben erschüttert. Über achtzig Jahre spannt sich von hier der Brückenbogen durch die Zeitgeschichte.
Edison Frimm, der sich am Anfang von Norbert Zähringers Roman Einer von vielen auf einen Kindereimer stellt, um über das Geländer zu gelangen, ist auch während eines Erdbebens geboren worden, in einer kalifornischen Kommune, unter einem Tisch der deutschen Firma Raabe. Jenes Beben war ein Ausläufer des Großen Kantō-Erdbebens, das am 1. September 1923 Tokio und Yokohama verheerte und den japanischen Polizisten Kago in die USA auswan
o in die USA auswandern lässt, um in Hollywood Gärtner zu werden, wo man ihn nach dem Angriff auf Pearl Harbor internieren wird.Ebenfalls am 1. September 1923 wird in Berlin Siegfried Heinze geboren, der mit Frimm den Umstand teilt, dass sein Vater nicht sein Erzeuger ist. Anfang 1945 werden sich dann beide begegnen, ohne sich zu erkennen. Siggi wird auf Befehl eines SS-Manns einen abgesprungenen amerikanischen Bomber-Piloten erschießen, Edison wird ihm dabei, an seinem Fallschirm an einem Baum hängend, zusehen, ehe er von seinem neuen Kameraden Bebo, dem Armenier mit dem unaussprechlichen Namen, gerettet werden wird, weil der, ehe er in die USA emigrierte, in Berlin lebte.Dann ist da noch Kriminalkommissar Mauser, der sich vor der Einberufung dadurch gerettet hatte, dass er die Kanalisation um die Reichskanzlei mit Gittern bestückte, um Hitler vor Attentaten auf dem Klo zu bewahren. Nun sucht er im bombardierten Berlin einen Serienmörder, der unter anderem Siggis Vater umgebracht hatte.Dieser Mörder, der wiederum mit dem Tisch zu tun hat, unter dem Frimm zur Welt kam, wird sein Ende an eben eines der Kanalisationsgitter Mausers finden, während Mauser einen Jungen vor dem KZ rettet, dessen Enkel jener Eimer gehört, auf dem Edison Frimm...Aber das ist längst nicht alles an Verwicklungen, Vernetzungen und Verstrickungen, die der Roman zu bieten hat. Sein Personal umfasst gefühlte 100 Personen. Fast alle hängen irgendiwe miteinander zusammen. Für den Leser wird das schnell zum Memory-Spiel auf der Basis jener Theorie, dass man spätestens über eine Kette von sieben Personen gemeinsame Bekannte findet. Im Netz kann man das unter wer-kennt-wen.de ausprobieren.So wird der Zufall zum Gesetz, wie nur noch bei Paul Auster, Michael Ondaatje oder Thomas Pynchon. Chance – zum Zufall gehört das Glück. „Happiness must be earned“ – so das Motto des Romans. Es stammt aus dem Stummfilmklassiker Der Dieb von Bagdad, der hier denn auch eine mehr als zufällige Rolle spielt. Und wenn späterhin das Haus des Hollywood-Tycoons mit dem Namen Serendip zu einem wichtigen Wendepunkt im Leben Frimms wird, erinnert das an Serendipity, den glücklichen Fund durch Zufall.Aber, so der Louis Pasteur zugeschriebene Satz: „Der Zufall begünstigt nur einen vorbereiteten Geist.“ Hier ist nichts unvorbereitet. Jeder Einfall – und davon gibt es im Roman so viele, dass man ganze amerikanische TV-Serien damit bestücken könnte – ist nur einer von vielen. Aber geführt von einem allmächtigen Erzählgott, von einem begünstigten Geist, der die Zufälle vorbereitet. Sein Pendant im Roman ist ein immer mal wieder im Berlin von 1993 auftauchendes Beobachter-Ich, ein Nachtwächter, „Hüter der kleinen Dinge“, der wiederum einen Bogen zu Paul Mahlow aus Norbert Zähringers vorherigem Roman schlägt.Als ich schlief war 2006 wegen seiner überbordenden Einfalls- und Global-Verquickungen oft gelobt, gelegentlich auch kritisiert worden. Hier nun hat Zähringer sein Verfahren perfektioniert. Nichts an den Spielen des Zufalls bleibt mehr dem Zufall überlassen. Und damit bekennt er sich zu dem, was allem Erzählen von Grund auf eignet, sei es in Romanen, sei es in Filmen – das virtuose Verweben und Verstricken von Plan und Einfall, Erlebtem und Erfundenem, Geschehenem und Gesponnenem.Ein grandioser Einfall dazu ist, wie die Hazardeurstruppe aus Hollywood, die zunächst erfolgreich im Swimmingpool von Joan Crawford den Angriff auf Pearl Harbor als ‚Dokumentarfilm’ gedreht hatte, nach England kommt, um in ihrer B-17 mit dem Namen Magic Carpet gefakte Bomberheldenstories zu drehen. Dann aber doch noch in den Ernstfall über Berlin gerät, aus dem sich einige durch ihre im Film erworbenen Kenntnisse retten können, so dass Frimm, nachdem er noch einmal unter einen Raabe-Tisch gerät, am Ende in der Opern-Uniform von Lieutenant Pinkerton aus Madame Butterfly die Befreiung erlebt – Medienrealität wird zu Realmedialität und umgekehrt.Was im Roman das Erfolgsgeheimnis des filmenden Propagandarealisten Sparky Rosenbaum ausmacht, dass Nachgestelltes und Dokumentarisches sich nahtlos fügen – und was im Roman an Dokufictions zum Fall der Mauer später noch ironisiert wird –, das gilt für den Roman selbst. Nahtlos gehen Szenen aus Filmen über in historische Fakten, Alltagssituationen changieren in Abenteuer und Allerweltsfiguren stammen aus aller Welt. Das ist Literatur der Glocalization. Oder besser: Literatur als Glocalisensation.Wo die Körperwelt zunehmend die künstliche Oberfläche ausstellt, gepierct, tätowiert und enthaart, da flimmern hier die Erzählhärchen unablässig wie elektronische Charts: Sieh her, das sieht so aus, als müsse es so aussehen, um real zu wirken. „Aus dem Dunst des Morgens kamen die Flugzeuge, knapp über dem gespiegelten Himmel, dessen Oberfläche sich unter ihren Flügeln kräuselte, wie Haare auf der Haut, wenn ein kalter Lufthauch darüberstreicht.“Ein beliebiges von unendlich möglichen Beispielen für einen Realismus als Lotuseffekt: jeder Vorbehalt gegen die Überkonstruktion perlt an der Vielzahl dieser kleinen Realitätseffektschuppen ab, aus denen die Oberfläche des Romans sich zusammensetzt. Das ist perfekt und dadurch auch unheimlich. Indes ist es Konsequenz jenes Kontingenzbewußtseins, das man früher als Humor zu bezeichnen pflegte. Und es ist konsequente Subversion von Realismusansinnen an mediale Narrationen – durch Übererfüllung.Darin nicht weniger irreal als jene Geschichten als die wir uns selbst zu erzählen pflegen – virtuoser allemal. Und wie sagt am Ende der kleine Junge von seinem geretteten Großvater, der ganz gut mit den Leuten sprechen kann? „Er erzählt ihnen dann seine Geschichte, und dann fühlen sie sich gleich besser.“
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