Dies ist die Geschichte einer Tür, die im Zeitlupentempo ins Schloss fällt. Sie erzählt von letzten Chancen und ausgelaufenen Ultimaten. Von immer wieder neuen Verhandlungen, einem aufgeschobenen Ende, vom Ausnahmezustand, in dem sich eine gesamte Fabrik eingerichtet hat. Von der Routine darin, mit dem Rücken zur Wand zu stehen, in der Gleichzeitigkeit kämpferischer Reflexe und stiller Resignation. Von allzu oft Totgesagten, die zum Schluss den Lauf der Dinge doch nicht aufhalten können. Ein Drama, sagen sie in Belgien. Ein Drama in so vielen Akten, dass niemand mehr hinsehen will: dies ist die Geschichte des langsamen Todes von Opel Antwerpen.
Liegt es an der Jahreszeit, dass sich dieser Tage ein Kreis zu schließen scheint? Auf dem Fabrikgelände weit
8;nde weit draußen im Hafen fährt der Wind unter die Haut wie eine heftige Lohnkürzungsrunde. Flach und unvermittelt fällt spärliches Licht durch die Löcher in der Wolkendecke. Alles erinnert an den vergangenen Januar: Auftritt Nick Reilly, Europachef von General Motors. Mit regungslosem Gesicht erzählt er der Presse von den Überkapazitäten des Konzerns. Als sein Telefon klingelt, greift er in die Brusttasche, um den lästigen Anrufer weg zu drücken. Genauso lakonisch entledigt er sich kurz darauf eines der Opel-Standorte: „Wir müssen eine Fabrik schließen. Leider ist es Antwerpen“. Die hier produzierten Astra-Reihen sollen andere Werke übernehmen. Ersatzprodukte anzusiedeln, ist zu teuer. Die Abwicklung des Standorts Antwerpen, folgert Reilly, ist „der logische Ansatz“. Im Sommer soll an der Noorderlaan 401 der Vorhang fallen.In ganz Europa läuft diese Szene am Abend über die Bildschirme. „Das Aus“ heißt es, die Sprecher klingen betroffen, doch die Arbeiter wirken eigenartig gefasst. Dass ihr Werk bedroht ist, schreien ja schließlich schon die Möwen von den Containerburgen ringsum. Nicht erst seit der gescheiterten Übernahme durch den Zulieferer Magna, im Herbst 2009, oder den angekündigten Sparplänen zu Beginn des gleichen Jahres. Antwerpen, das war schon vorher der Wackelkandidat unter den Opel-Niederlassungen auf dem Kontinent. 2007 entschied der Konzern, das neue Astra- Modell nicht mehr dort zu produzieren. Dabei hatte die Fabrik bei einer internen Inspektion die Höchstpunktzahl erreicht. Wenig später wurde fast die Hälfte der 4.700 Mitarbeiter entlassen. Umstrukturierung, hieß es auch damals.5.000 Autos als GeiselIn einem ausrangierten Linienbus am Werkstor glaubt man dennoch an die Zukunft. Beginnen soll sie am Verhandlungstisch. Was fehlt, ist ein Gegenüber. Wieviel Druck braucht es, die Konzernleitung zu Gesprächen zu bringen? Wie breit muss die Basis sein? Ist eine europäische Strategie, gemeinsam mit den anderen Werken, die Lösung? Es ist Ende Februar. Männer in knallroten Allwetterjacken diskutieren an einem eingebauten Holztisch. Auch Küche und Fernseher gibt es hier. An der Wand hängt die Fotomontage eines Filmposters. „Der Untergang“ steht darauf. „Starring Nick Reilly.“ Der Bus gehört der sozialistischen Gewerkschaft ABVV, die etwa die Hälfte der gut 2.500 Arbeiter vertritt. Knapp die andere Hälfte ist im katholischen ACV organisiert, einige Ausnahmen in der kleinen liberalen Gewerkschaft.Auch die Katholiken, in grün gekleidet, unterhalten einen Posten am Eingang. Nur ein paar Meter liegen dazwischen, doch viel Kontakt haben die Sozialisten nicht mit ihnen. Man sagt hier, sie wollen lieber eine tote Fabrik als eine rote, und eine gute Entlassungsprämie genüge ihnen schon. Seit der Ankündigung Reillys halten die Gewerkschaften hier die Stellung. Anfangs ließen sie kein fertig produziertes Auto mehr passieren. Dann drohte GM, den Nachschub an Karosserien und anderen Teilen abzuschneiden. Seither hält man einen Stock von 5.000 nagelneuen Astras im Wert von je 15.000 Euro zurück. Im Tausch gegen die Tagesproduktion von 500 Wagen können 500 andere passieren. „Unsere Kriegsbeute“, sagt Rudi Kennes, bei der Metall-Abteilung des ABVV zuständig für Opel Antwerpen und in belgischen Medien bekannt als Gesicht des Widerstands gegen die Schließung. Wie lang die Aktion dauern soll? „So lange es nötig ist.“Im Frühjahr erweist sich die Kriegsbeute als Unterpfand. Die Gewerkschaften geben die Astras frei, und General Motors stimmt tatsächlich einem Kompromiss zu: Mit etwa 1.100 Arbeitern, knapp der Hälfte der Belegschaft, will man bis zum Jahresende weiter machen. Was danach passiert, sollen die kommenden Monate zeigen: Der 30. September wird zum Stichtag. Bis dann muss ein Investor einen Businessplan vorlegen. Der ABVV forderte eigentlich Zeit bis April 2011. Jetzt will man die Suche nach Übernahmekandidaten forcieren. „Wenn wir es dieses Mal schaffen“, sagt Rudi Kennes, „kriegen sie die Fabrik nie mehr dicht.“Die kämpferischen Töne stehen im Kontrast zum Fatalismus auf dem Werksparkplatz. Die Zukunft? „Fischen gehen“, sagt ein beleibter Endfünfziger trocken. Jüngere Kollegen erklären beiläufig, sich nach einem anderen Job umzusehen. Inzwischen ist es April. Gewerkschaften und Direktion verhandeln über die Details des Sozialplans. Ob Extraprämie oder nicht: Rachid, ein junger Familienvater, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, fühlt sich ohnehin abgespeist. Ständige Kurzarbeit, die drohende Schließung, dazu als einzige Konstante die nagende Ungewissheit: „Schmerzensgeld müssten sie uns bezahlen. Dafür, dass sie uns körperlich und mental kaputt gemacht haben.“Mit Schmerzen kennt sich Paul Oste aus. 20 Jahre hockte er unter den Autos, die auf dem Fließband vorbei zogen, und maß Brems- und Benzinleitungen nach. 54 Sekunden, dann kam der nächste Wagen. „So: mit krummem Nacken, gebogenem Rücken und gebeugten Knien“. Er imitiert die Position. Der Rücken ist kaputt, im Nacken hat er Arthrose. Vor zehn Jahren war er deswegen bei einem Spezialisten. „Als der die Röntgenbilder sah, fragte er: Arbeiten Sie auch bei Opel?“ Seit Anfang Mai ist Paul Oste, demnächst 51, im Vorruhestand. Er sitzt in einer grauen Bar im grauen Stadtteil Luchtbal, da, wo die Stadt in den Hafen übergeht. Ab und an kam er nach der Schicht mit Kollegen hierher. Die Straße draußen heißt auch hier schon Noorderlaan. Der Urlaub, der vor ihm liegt, war eigentlich zum Krafttanken gedacht. Von „Oppl“, wie man hier sagt. Doch das ist jetzt nicht mehr nötig.Investor lässt Puppen tanzenPaul Oste ist gelernter Schiffsbauer. Als junger Mann arbeitete er auf einer Werft. Als sie bankrott ging, dockte er bei Opel an. Zum zweiten Mal erlebt er nun das Ende einer der industriellen Institutionen Antwerpens. 121.000 Euro brutto bekommt er als Entschädigung. Nur 12 Mitarbeiter des Werks sind lange genug dabei für den Höchstsatz von 144.000 Euro. Dazu kommt eine einmalige Zahlung von 2.295 Euro. „Verpiss-Prämie“ nennt sie Paul Oste. 1.150 Euro Arbeitslosengeld, dazu das, was nach den Steuern von der Abfindung bleibt, „50.000, wenn die Fahrt rum ist“. Macht 1.400 oder 1.500 im Monat. Neu anfangen will Paul Oste lieber nicht mehr. Eigentlich hat er sich gefreut auf den Vorruhestand. Doch nun starrt der schlaksige Mann bedröppelt in seine Kaffeetasse. „Kein Hurra- Gefühl“ mag sich einstellen, eher kommt er sich vor „wie ein geschlagener Hund.“Die, die bleiben, warten weiter. Die flämische Regierung hat eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich den ganzen Sommer über im Wochentakt trifft. Sie soll „auf effiziente Weise nach einem Investor suchen“. Mehr als spärlich sind die Informationen, von interessierten Kandidaten ist die Rede, doch Details gibt es keine. Die Gewerkschaften verbreiten Zuversicht, von der niemand weiß, wie sie zustande kommt. Die Werksleitung hält sich mit Kommentaren zurück. Eine träge, unwirkliche Stille liegt über der Noorderlaan. Als stünde nicht das Fortbestehen auf dem Spiel. Der 30. September kommt näher. Ein Donnerstag. Nichts ist zu erfahren. Außer, dass General Motors sich erst nach dem Wochenende mitteilen wird.„Wir hatten schon zehn Staatsbegräbnisse in den Medien“, hat Rudi Kennes im Januar gesagt. Jetzt, im Oktober, folgt das elfte. Weil kein Kandidat einen überzeugenden Businessplan vorlegen konnte, ist definitv am Jahresende Schluss. Sagt General Motors. Aber: zwei potenzielle Investoren sind weiterhin interessiert. Einem davon soll die Übernahme 255 Millionen Euro wert sein. Sagt der ABVV, und ruft umgehend alle Opel- Fabriken auf, vorübergehend die Arbeit niederzulegen. Die chinesische Automobilfirma Geely, die 2009 schon Volvo übernahm und auf den europäischen Markt drängt, bestätigt ihr Interesse. Konzernchef Li Shufu, der beim euro-asiatischen Gipfel in Brüssel weilt, wird bei der flämischen Regionalregierung vorstellig. Erneut drängen die Gewerkschaften auf Verhandlungen. Die Werksleitung teilt mit, nach aktuellem Stand werde die Fabrik geschlossen.Die Schrauben bleiben hier!War der Sommer doch nur die Ruhe vor dem Sturm? Oder folgt nun der letzte medienwirksame Showdown im Kampf um Opel Antwerpen? „Wenn GM nicht will, gehört Opel ab heute uns“, erklärt der ABVV. Auch die katholische ACV fordert eine Chance für Geely. Doch damit endet der gemeinsame Weg. Die ABVV geht weiter: Sie setzt ein „Wachsamkeitskomitee“ ein, das die Demontage der Fabrik verhindern soll, denn nur eine intakte Produktionsanlage bietet eine Chance auf Übernahme. Man erklärt Nick Reilly den „Krieg“ und kündigt „harte Konfrontationen“ an: „kein Unterteil einer Maschine, keine Mutter, keine Fahne wird den Betrieb verlassen“, droht man. Und folgert trotzig: „Opel ist noch nicht tot und begraben. Es ist erst vorbei, wenn wir sagen, dass es vorbei ist.“Die Demontage ist längst eine Tatsache. Und sie hat nichts mit Werkzeug oder Unterteilen zu tun. An der Basis glaubt im Spätherbst niemand mehr an eine Wende, auch wenn GM mittlerweile Gespräche mit Geely aufgenommen hat. „Puppentheater!“, sagt Vorarbeiter Stefan dazu, und verzieht das Gesicht. „Inzwischen ist ein Punkt erreicht, an dem die meisten hier lieber wissen wollen, dass es vorbei ist. Nur die Gewerkschaften verstehen das nicht.“ Es ist nicht so, dass Stefan das Ende nicht berührt. „Wenn dir was weh tut, gehst du zum Betriebsarzt. Wenn du Hunger oder Durst hast, gibt es die Cafeteria. Es ist eine eigene kleine Welt hier.“ Natürlich wird er sie vermissen, nach 25 Jahren. „Gibt es heutzutage überhaupt noch Betriebe, in denen die Leute so lange arbeiten?“ Für einen Mittvierziger klingt er bemerkenswert sentimental. Bandarbeiterin Bianca geht diese Neigung hingegen ab. Schlaflose Nächte bereitet ihr der Arbeitsplatz nicht. „Erstmal Arbeitslosengeld“, das ist der Plan. Sie zuckt mit den Schultern. Die aktuellen Entwicklungen verfolgt sie nicht mehr. „Die Lage ändert sich hier doch jede Woche.“Bianca hat Recht: die Verhandlungen mit Geely bleiben ohne Ergebnis. Doch kurz darauf präsentiert die Arbeitsgruppe der flämischen Regierung einen neuen Kandidaten, wieder aus China, wieder ein Autohersteller: Zhengzhou Hi-Tech Vehicle will, so heißt es, 600 Millionen Euro bezahlen. Nick Reilly vermisst auch diesmal einen akzeptablen Businessplan. Ende November werden auf der Website des Auktionshauses Maynard Opel-Produktionsanlagen aus Antwerpen angeboten. Unterdessen sieht Paul Oste seinem ersten Weihnachtsfest als Frührentner entgegen. Euphorie, sagt er, will noch immer nicht aufkommen.
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