Der Dalai Lama verblüfft mit einem neuen Schachzug. Zum 52. Jahrestag des nationalen Aufstandes in Tibet hat er bekanntlich seine Abdankung als politisches Oberhaupt der Exilregierung im indischen Dharasalam verkündet. Neuer Regierungschef soll nach entsprechender Verfassungsrevision der Premier werden, der derzeit durch Tausende von Exil-Tibetern in Indien, Bhutan, den USA, Australien, Russland und Japan gewählt wird. In Nepal, wo nach Indien die größte Zahl von Tibetern lebt, ist die Wahl auf Druck Chinas verboten.
Eine erstaunliche Metamorphose: Der Ableger mittelalterlicher tibetischer Theokratie, der im indischen Exil zum Vatikan des tibetischen Buddhismus wurde, ist dabei, sich Schritt für Schritt in eine säkulare Demokratie zu verwandeln. Nun wird die religiöse Nabelschnur gekappt, die jahrhundertelang die Macht von Zepter und Altar verband. Keiner der drei Premierministerkandidaten bekleidet ein religiöses Amt. Viele fürchten negative Folgen: Desintegration der 150.000 Exil-Tibeter in der Diaspora, Schwächung der Verbindung zu Tibet und Verschlechterung der Aussichten für einen Dialog mit China. China verurteilt den Schritt als „Trick“, den Westen zu ködern.
In der Tat empfiehlt sich Dharasalam im neuen säkular demokratischen Gewand als attraktiver Partner, wenn die Tibet-Karte gegen China gespielt wird, die in den fünfziger und sechziger Jahren immerhin so beliebt war, dass der CIA Exil-Tibeter als Guerilla ausbildete. Aber da ist mehr. Die Regierung in Peking macht neuerdings kein Hehl daraus, dass sie im Falle des Todes des Dalai Lama eine ihr genehme „Reinkarnation“ aus dem Ärmel zu ziehen gedenkt (wie sie das bereits im Falle des Panchen Lama und des Karmapa Lama getan hat). Dabei stört es kaum, dass sich der Dalai Lama geradezu weigert, wieder geboren zu werden. Er zieht es vor, seine religiöse Nachfolge selbst zu bestimmen oder gar demokratisch zu regeln. Schriller Kommentar des von Peking installierten Führers des „autonomen Tibet“: Was der Dalai Lama sagt, zählt nicht! - In dieser Lage könnte Dharasalam rasch zum chinesisches U-Boot werden, solange religiöse und politische Macht gekoppelt sind. Der „Wolf in der Mönchskutte“, wie ihn Peking gern bezeichnet, hat weiteres in petto. Dank Wikileaks ist ein geplanter Strategiewechsel bekannt, den er 2009 mit US-Botschafter Timothy Römer diskutierte. Der Dalai Lama will seine kraftlos gewordene politische Agenda zurückstellen und demnächst unter dem dynamischeren Banner des Umweltschutzes im Himalaya gegen China segeln. Beim Klimagipfel in Kopenhagen Ende 2009 haben sich bereits Mitstreiter gefunden.
Kommentare 2
Der Langmut und die Geduld der chinesischen Regierung mit den exiltibetischen Mafiosi ist wirklich bewunderungswürdig.
Der chinesische Auslandsgeheimdienst sollte seine Kontakte zu den Israelis intensivieren. Deren Gegnern im Exil in Beirut oder Damaskus ist üblicherweise eine wesentlich kürzere Halbwertszeit beschieden als dem Dalai Lama und seinen Würdenträgern.
Sorry, aber da haben sich gleich mehrere Ungenauigkeiten in den Artikel eingeschlichen:
Der Dalai Lama mag zwar den Exiltibetern als höchste politische Authorität gelten - ein offizielles Amt indes hat er nicht inne. Der bisherige Premierminister der Auslandtibeter, Samdhong Rinpoche, war bereits im September 2001 aus einer Wahl hervorgegangen; die jetzige Wahl mitnichten die erste ihrer Art. Den Dalai Lama als geistiges Oberhaupt aller Tibeter zu bezeichnen ist ebenfalls nicht korrekt. Im Tibetischen Buddhismus gibt es vier große, spirituell voneinander völlig unabhängige Schulen (Nyingma, Shakya, Kagyü und Gelug), die verschiedene Unterschulen sowie ihre eigenen Oberhäupter haben. Dementsprechend fragwürdig bis konfus sind auch einige Interpretationen, die der Artikel vornimmt.