Es gibt offensichtlich Ereignisse, vorwiegend katastrophischer Art, bei denen der klassische Unterschied zwischen „seriöser Presse“ und Boulevard, zwischen dem sogenannten Qualitäts- und dem ebenfalls sogenannten Schweinejournalismus, nicht wirklich aufrechterhalten wird. Das hat Gründe im Ereignis selbst. Es gibt keinen Raum für Interpretation, Analyse, Einordnung, Historisierung etc. Es ist ein Ereignis, zu dem man, in Hannah Arendts Sinn, einfach nur sagen könnte, dass es nicht hätte geschehen dürfen. Blinde Natur, im Menschen und außer ihm. Eine wirkliche aufklärerische Antwort auf eine solche Katastrophe, das wissen wir spätestens seit einem Erdbeben in Lissabon, das im Jahr 1755 den Glauben an das Leben in der besten der m
r möglichen Welten erheblich erschütterte, ist nicht möglich. Stattdessen entsteht eine Gemengelage aus Rationalisierungen, Verschwörungsfantasien, Religionspartikeln, Todesgeilheit und Ritual. Der dampfende Urbrei einer Erzählung, die, wenn sie einmal fertig oder abgebrochen ist, weggeworfen wird wie die Zeitung von gestern. Pulp Fiction.Aufgeklärte MenschenDass sich „schmutziger“ und „sauberer“ Nachrichtenstil so heillos vermischen, hat aber auch Gründe in einem Journalismus, der seine Wurzeln in der Aufklärung ohnehin gekappt hat. Der „seriöse“ Journalismus, den es einmal gegeben haben soll – war das nicht einer, der als Adressaten den aufgeklärten, liberalen, hier mal mehr zur konservativen, dort mehr zur sozialdemokratischen Seite neigenden bürgerlichen Menschen hatte, der die Information in seine Bildung integrieren konnte und sich mit gebotener Skepsis der Tatsache bewusst war, dass diese Information ein bedeutender Teil der demokratischen Praxis in Politik, Wirtschaft und Kultur darstellt?Die allgemeine Informiertheit ist die Grundlage jeder Entscheidung, so dass Zeitung-Lesen ein emanzipativer Akt werden konnte: Das Volk konnte nur als zeitungslesendes zum eigentlichen Souverän werden – und als mediennutzendes wird es auch wieder abgesetzt in Entmündigung und Selbstentmündigung.Die Zeitung in ihrer Glanzzeit war so etwas wie eine kulturelle und politische Dienstleistung. So notwendig für das Leben wie andere Dinge des täglichen Bedarfs. Die Zeitung erzählte nicht nur die Welt, sie erzählte auch ihre Adressaten; der Blick in den Kontinuitätstext der Zeitung beantwortete immer zwei Fragen: Was ist los? Und: Wer bin ich? Um sich dabei zurechtzufinden, half eine einfache Unterscheidung: Dies ist seriöse „bürgerliche Presse“ (später entstand das nostalgische Wort vom „Qualitätsjournalismus“). Das ist Propaganda- und Parteipresse. Und jenes ist „Boulevard“. Will sagen: Unterhaltung, Klatsch, Sensation, Sex & Crime, Schmutz.Es gab nicht nur Grenzen für jede dieser Formen der Presse, es wurde zu gewissen Zeiten vor allem darauf geachtet, dass die Grenzen zwischen einander gewahrt blieben. Auf einem funktionierenden und offenen Markt der publizistischen Dienstleistungen war diese grobe Dreiteilung, nebst zahllosen Differenzierungen natürlich, nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Pressekritik bestand, abgesehen vom rapiden allgemeinen Stil- und Niveauverfall, stets vorwiegend aus dem Hinweis auf die Missachtung der Grenzen: ideologische Hetze und einseitige Berichterstattung inmitten des „liberalen Qualitätsjournalismus“! Boulevardisierung der bürgerlichen Traditionsblätter! Mittlerweile beginnen wir uns an beides zu gewöhnen.Der enger werdende Markt, die multimediale und Crossovererzeugung von Markenpräsenz unter den Nachrichtenschleudern sowie die Abwertung der Arbeit und die Aufwertung von Prominenz im Journalismus üben nun einen enormen Druck auf die Erben der bürgerlich-demokratischen Nachrichten- und Kommentar-Medien aus. Weder kann man sich eine wirkliche Abgrenzung zum Boulevard mehr leisten, noch die einst viel beschworene „Objektivität“. Die Ware Nachricht muss verkauft werden, in Form von Zeitung, Magazin, Internet-Portal oder Fernsehsendung, und sie muss da verkauft werden, wo angeblich alles hinstrebt, in der Mitte.Die Nachricht muss möglichst billig erzeugt und möglichst teuer verkauft werden, das ist das ganze Geheimnis; eine Katastrophe ist in der publizistischen Kosten/Nutzen-Rechnung sehr erfreulich, zumal die Menschen unseres Kulturkreises erfahrungsgemäß angesichts einer unerklärlichen Katastrophe kurzfristig nachrichtensüchtig werden. Und auch ein einst „seriöses“ Medium kann ökonomisch leichter auf die entsetzten „konservativen“ Leserinnen und Leser verzichten, die auf Stil, Würde und Anstand pochen mögen, als auf die der aktuellen Mitte, die schon aus ökonomischen Gründen von einer Zeitung irgendwie alles verlangen, Information, Lebensberatung, Unterhaltung, Klatsch, Geschmacksverstärkung. Wie die Bild-Zeitung eben. Nur nicht so offensichtlich.ÜberbietungenDabei entstehen höchst bizarre Rückkopplungseffekte. Denn wie sie als Dienstleistung einen Grad an „Selbstverständlichkeit“, an Vertrauen und Verlässlichkeit anstreben musste, ist die serielle Informationsmaschine als Ware beständig unter Markt-Beobachtung. Das Interessanteste am Spiegel ist die Frage, welches Titelbild sich am meisten verkauft hat. Das Interessanteste an der Bild-Zeitung ist die Frage, welche Grenzen an Geschmack, Würde und Respekt sie nun wieder überschreiten wird. Menschen, die in Medien vorkommen, geben das wieder, was sie vorher in den Medien gehört, gelesen und gesehen haben.Bei jeder Katastrophe wird dieser absurde Zirkel rascher, und bei jeder Katastrophe schwimmen immer rascher Fiktionen und Fakten ineinander, mit einem immer weiter wuchernden Umfeld von Informations-Nichtigkeiten, deren eigentlicher Inhalt die Würdelosigkeit ihrer Entstehung ist. Und aus den Fragen „Was ist los?“ und „Wer bin ich?“ wurden zwei andere: „Ist die Welt wirklich so wahnsinnig?“ und „Bin ich wirklich einer, der so etwas lesen, sehen, hören will?“.Was bei der Berichterstattung zum Flugzeugabsturz direkt ins Auge springt, das ist, wie die Blätter des einstigen Qualitätsanspruchs–zum Beispiel der Spiegel – sich ebender Mittel bedienen, die man beim Boulevard schon als grenzwertig bezeichnen darf: Das „Witwenschütteln“, die würdelose Attacke auf die Privatsphäre der Betroffenen, das Auspressen noch entferntester Verwandter und Bekannter (die Mutter einer Schulkameradin oder ein Mann, der vor Jahren ein Kind bei einem Absturz verlor), die hemmungslose Spekulation mit emotionalen plot points (Burn-out, Sehstörung, psychische Erkrankung, Schwangerschaft der Freundin, eine islamische Ex?), überhaupt die Vermischung von Information und Mutmaßung, die Überbietungsstrategie, die Suche nach dem schrillsten Bild, die Umformung von Nachrichten in „Storys“, das Ausnutzen der Belastungssituation der Angehörigen zur „Nachrichten“-Herstellung, die Belagerung von Menschen und Institutionen, so rasche wie vage Hinweise auf das Versagen der Kontrollinstanzen (denn das ist der einzige Weg, einer Katastrophe ein Happy End zu diktieren: Verschärfung der Kontrollen) und vieles mehr. (Schlechte!) Boulevardisierung ist zugleich ein moralischer, ein ästhetischer und ein technischer Vorgang.Immer wieder gibt es bei den Erben der bürgerlich-demokratischen Presse mehr oder weniger heuchlerische Erklärungen. Ganz so schlimm wie die Kollegen vom Boulevard, ganz so schlimm wie beim „Privatfernsehen“ treibe man es doch nicht. Man respektiere Grenzen etc. Wenn es hochkommt, schilt man sogar mal die eine oder andere Entgleisung; Erschrecken über die eigene Unkultur gehört mittlerweile schon zur fixen Dramaturgie des Katastrophen-Journalismus. Kann denen mal vielleicht jemand sagen, dass die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Journalismus nicht darin liegen kann, dass man letzte Grenzen der Niedertracht überschreitet oder nicht, sondern darin, dass man seine Arbeit und seinen Auftrag grundsätzlich anders versteht?
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