Westwelt, frühes 21. Jahrhundert: Die Armen müssen Angst haben, sich abends in ihr Bett zu legen
Foto: Niklas Halle‘n/AFP/Getty Images
Der Schmerz und die Wut sind überall. An den Hauswänden, in den Bushaltestellen, am Fenster im Pub und an den Säulen der Autobahnbrücke: Vermisstenanzeigen, Fotos von Verbrannten oder Erstickten, verwelkte Blumen, Wandmalereien, Teddybären und Trauerbotschaften. Es müssen Tausende sein. Immer wieder schweift der Blick unwillkürlich nach oben, zum verkohlten Gerippe des Grenfell Tower, in dem vor acht Monaten 71 Menschen den Tod fanden. Am 14. Juni 2017 hatte sich kurz nach Mitternacht ein Feuer mir rasender Geschwindigkeit über die Außenfassade ausgebreitet. Dass deren Wärmedämmung keinen ausreichenden Brandschutz garantiere, darauf war mehrfach hingewiesen, doch von der Hausverwaltung nichts unternommen worden. Heute wird das Hochhaus
aus teilweise von einem Gerüst verhüllt – ein Versuch, die Anwohner im Quartier vor dem Anblick des makabren Mahnmals zu schützen. Doch hat sich Grenfell längst in die Psyche der Community eingebrannt.Unter der Autobahnbrücke, die den Stadtteil Ladbroke Grove von Ost nach West durchquert, liegt der Maxilla Social Club. Seit der Brandkatastrophe dient das Gemeindezentrum als Treffpunkt für Überlebende, Angehörige und freiwillige Helfer, die hier Rat und rechtlichen Beistand finden. An die Mauer gegenüber vom Eingang hat jemand ein großes, anatomisch wirkendes Herz gemalt, aus dem Blut tropft. Wie schmerzhaft die Wunde von Grenfell noch immer ist, zeigen die Emotionen, die sich im Verlauf dieses Abends Anfang Februar Bahn brechen. Der Andrang ist erheblich, gut zweihundert Menschen zwängen sich in den Saal. Die meisten von ihnen sind Anwohner, darunter viele Migranten und Angehörige ethnischer Minderheiten.„Wir haben immer mehr das Gefühl, vergeblich nach Gerechtigkeit zu suchen“, beginnt Moira Samuels, eine der Mitgründerinnen der Kampagne Justice for Grenfell, „und deshalb sind wir heute hier.“ Grenfell war eine Zäsur in der jüngeren Sozialgeschichte Großbritanniens, eine Tragödie, die das Land schwer erschüttert hat. Wie bei kaum einem anderen Ereignis wurde die Brutalität einer Gesellschaft offenbar, in der das Gefälle zwischen Arm und Reich derart groß geworden ist, dass Leute mit geringem Einkommen um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie abens zu Bett gehen.In den Tagen und Wochen nach dem Brand wurde den Überlebenden viel versprochen – eine neue Wohnung, eine Entschädigung, vor allem Aufklärung, die Suche nach den Schuldigen. In den Kommentarspalten der Zeitungen wurde unablässig beteuert, dass Grenfell einen Wendepunkt darstelle und eine gerechtere Wohnpolitik nichts weniger als ein moralisches Gebot sei. Alle maßgeblichen Politiker, bis hin zu Premierministerin Theresa May, statteten den Opfern Besuche ab. Die Queen sprach in ihrer Weihnachtsbotschaft vom „blanken Schrecken“ eines Großbrandes, den niemand vergessen könne. Acht Monate nach dem Inferno befürchten die einstigen Grenfell-Bewohner, dass ihnen genau das widerfährt. Dass sie vergessen werden und wieder in der Belanglosigkeit versinken.Eine Familie, ein Bett„Es ist grausam, dass Menschen, die derart traumatische Erfahrungen gemacht haben, noch immer mit solcher Gleichgültigkeit und Verachtung behandelt werden“, sagt Judy Bolton, eine 48-jährige Krankenpflegerin, die seit zwölf Jahren in Ladbroke Grove lebt. Von ihrem Balkon aus sah sie den brennenden Wohnblock und wusste in diesem Augenblick, dass sie Verwandte und Freunde verlor. Heute setzt sie sich für die Überlebenden und deren Angehörige ein. „In diesem Bezirk stehen 150 Wohnungen leer. Weshalb müssen Familien noch immer in Hotels wohnen?“ Nach dem Feuer hatte Theresa May erklärt, alle Überlebenden würden innerhalb von drei Wochen eine neue Wohnung erhalten. Anfang Februar 2018 jedoch sind erst 56 von insgesamt 207 Haushalten versorgt. 60 Einzelpersonen oder Familien leben weiter in temporären Apartments oder Notunterkünften, das heißt in Hotelzimmern. „Darunter dürfen Sie sich keinen Luxus vorstellen“, sagt Bolton. „Da wohnen ganze Familien in einem Zimmer. Die Mutter schläft mit den Kindern im Bett, der Vater auf einer Matratze. Das sind unhaltbare Zustände.“Das Versagen der Behörden bei der Umquartierung müssen die Überlebenden als Affront empfinden. Was sonst? Doch ist die Liste der Unterlassungen bedeutend länger. So wurde dem Wunsch der Bewohner des Viertels, dass der öffentliche Untersuchungsausschuss zu Grenfell einen Vertreter der Community einschließt, nie stattgegeben. Außerdem bleibt der psychologische Beistand für die traumatisierten Anwohner unzureichend. Es wurde bisher nichts für mehr Brandschutz in den umliegenden Wohnhäusern getan, weil das von der Regierung versprochene Geld schlichtweg nicht zur Verfügung steht. Noch immer hat die Justiz niemanden zur Rechenschaft gezogen. Der Vorsitzende der Wohnungsbehörde, die für Grenfell Tower verantwortlich war, bezog 2017 ein Jahresgehalt von 150.000 Pfund, erst zum Jahreswechsel trat er zurück. Die Frage, die beim Meeting im Maxilla Club immer wieder gestellt wird: Wer bezahlt dafür, dass unsere Freunde und Verwandten tot sind?Die Stimmung wird zunehmend gereizter, einzelne Zuhörer unterbrechen die Referenten. Als ein Vertreter der Lehrergewerkschaft ans Mikrofon tritt, um seine Solidarität mit den Opfern zu bekunden, ruft ein junger Mann aus der hinteren Reihe: „Was machen wir hier eigentlich? Wer sind diese Leute?“ Er wird umringt von Freunden, die ihn zu beruhigen suchen. Für ein paar Minuten stört sein Ausbruch den Auftritt des Lehrers. Ein Mann mit Schiebermütze ruft immer wieder denselben Satz: „Wenn ihr uns helfen wollt, dann sorgt dafür, dass die Schuldigen verurteilt werden!“ Misstrauen und Empörung innerhalb der Community sitzen tief. Das Gefühl, von den lokalen Behörden und der Regierung in Westminster im Stich gelassen zu werden, führt zur instinktiven Abwehr gegenüber allen Außenstehenden. Für viele zeigt sich mit der jetzigen Ignoranz eben genau jene Geringschätzung ihres armen, multikulturellen Viertels, die überhaupt erst zur Grenfell-Katastrophe geführt hat, weil elementare Sicherheitsstandards missachtet wurden.Alex Diner sieht sich jeden Tag mit dieser Stimmung konfrontiert. Er arbeitet im North Kensington Law Centre, einem Büro für Rechtsberatung gleich hinter dem Grenfell Tower. Bei Diner suchen viele Überlebende Rat und Trost. Fehlentscheide der Bezirksverwaltung nach dem Feuer hätten bei den Betroffenen das Gefühl verstärkt, die für sie zuständigen Ämter seien außerstande oder nicht willens, effiziente Hilfsaktionen auf die Beine zu stellen. Sie blieben alleingelassen und auf sich selbst gestellt, als es darauf ankam, in den lokalen Gemeindezentren Schlafstätten, Bekleidung und Nahrungsmittel zu organisieren.Goldgrube für MaklerEin bedrückendes Problem für die Bewohner des Viertels seien die mentalen Folgen des Großbrandes, sagt Diner. Gut 200 Menschen mussten nach dem Feuer aus umliegenden Blocks evakuiert werden, weil dort kein Wasser mehr lief und Heizungen defekt waren. Die meisten sind mittlerweile in ihre Wohnungen zurückgekehrt, einige schrecken davor zurück. „Das erfahrene Trauma stellt für viele das größte Hindernis dar“, sagt Diner. „Die Heimkehr in ihre frühere Wohnung, in das gewohnte Umfeld ist mit viel Selbstüberwindung verbunden, wozu manche nicht in der Lage sind. In ihnen wühlt die Angst.“Judy Bolton hat selbst eine zwölfjährige Tochter, die unter den Folgeschäden leidet. „Sie will nachts nicht allein in ihrem Zimmer sein, weil sie befürchtet, im Schlaf zu verbrennen. Für die Überlebenden des Feuers ist es noch schlimmer. Stell’ dir ein Kind vor, das in diesem Gebäude wohnte und in der Nacht evakuiert wurde. Es musste zusehen, wie der Block abbrannte, es hörte die Schreie. Und bis heute kommt dieses Kind jeden Tag an dieser Stelle vorbei – auf dem Weg zur Schule und auf dem Weg zurück.“ Gesundheitsexperten schätzen, dass sich gut 11.000 Menschen im Umkreis des Grenfell Tower nicht von der Last der Erinnerung befreien können. Auch dieser seelische Notstand sei den Verantwortlichen bei der Bezirksbehörde zu wenig bewusst, glaubt Alex Diner.Fehlendes Einfühlungsvermögen und ausbleibende Hilfe haben für die Anwohner besonders einen Grund: Man empfindet sie als störend. Der Norden des Bezirks Kensington and Chelsea wird behandelt wie der schmutzige Hinterhof eines prächtigen Hotels; jedes Mal, wenn der betreten wird, denken sich die Inhaber, dass man hier eigentlich ein paar Luxusapartments bauen könnte, wären da nicht diese Leute. Im Süden liegen Chelsea, Harrods und Kensington Palace Gardens, die Quartiere der globalen Elite; im Norden wohnen lediglich Menschen. Arme noch dazu. Die lokale Labour-Abgeordnete Emma Dent Coad, die zum Treffen im Maxilla Club ebenfalls erschienen ist, warnte im November, dass längst vergessene Krankheiten wie Tuberkulose in North Kensington wieder häufiger würden. Die Lebenserwartung bei Männern sei in manchen Straßen dieser Gegend um 20 Jahre kürzer als im Süden der Hauptstadt. Die Gentrifizierung schreite trotz allem weiter voran.„Wir sitzen hier auf exklusivem Boden“, sagt Judy Bolton. Das sei eine Goldgrube für Bauunternehmer und Immobilienspekulanten. Würden Wohnsiedlungen saniert, meist in Kooperation mit Privatfirmen, seien die modernisierten Unterkünfte stets teurer als zuvor, sodass die Anwohner anderswohin ziehen müssen.Es ist ein bekanntes Muster in London, wo der Immobilienboom in den vergangenen zwei Jahrzehnten absurde Ausmaße angenommen hat. Immer mehr zentrale Stadtquartiere werden unbezahlbar für Normalverdiener. Die Stadtbehörde berechnete 2015, dass die Renovierung von 50 Siedlungen seit 2008 zum Verlust von 8.000 Sozialwohnungen geführt hat. „Die Regierung spricht von Aufwertung“, sagt Bolton. „Wir nennen es soziale Säuberung.“Auch der öffentliche Raum schrumpft weiter. Wenige hundert Meter östlich des Maxilla Club, gegenüber der U-Bahn-Station Ladbroke Grove, wird vier Tage nach dem Treffen eine neue Filiale der Café-Kette Pret A Manger eröffnet – ein allgegenwärtiges Symptom der Gentrifizierung. Früher standen dort ein Beratungsbüro und ein Gemeindezentrum für die Bewohner. „What the hell?!“, sagt Bolton. „Das war ein Ort für unsere Community.“ Auch der Falafel-Laden nebenan musste schließen. „Dies ist eine multikulturelle Lokalgemeinde – wir haben Leute, die aus Irland, Marokko oder aus der Karibik eingewandert sind, so wie meine Eltern. All das ist Teil unserer Kultur, aber die Räume für uns werden immer weniger. Man raubt unserem Quartier fortwährend die Existenz.“
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