Eklat

RÜCKTRITT Die EU-Kommission hat Europa einen Bärendienst erwiesen. Schlägt nun die Stunde des europäischen Parlaments?

Das war die Woche der Rücktritte. Erst Lafontaine, dann die gesamte EU-Kommission. Den einen Abgang dürfen wir bedauern. Aber er hatte wenigstens Stil. Der andere war überfällig - und obendrein stillos.

Die europäische Kommission ist nicht zurückgetreten, sie ist zurückgetreten worden. Die kollektive Demission darf getrost als Flucht nach vorn gewertet werden. Und niemand wundere sich bitte, wenn gut die Hälfte der Kommissare keinen Umzugswagen bestellen muß. Man sieht sich in Brüssel - und führt derweil die Amtsgeschäfte weiter. Mit vollen Bezügen? Aber das darf man nicht fragen. Das ist Populismus.

Deshalb im Ernst: Warum müssen die EU-Kommissare weiter amtieren, wenn sie ihre Verwaltung - immerhin schlappe 15.000 EU-Bürokraten - ohnehin nicht im Griff haben. Das nämlich ist der kollektive Vorwurf, den die Sachverständigen der gesamten Kommission machen. Die Günstlingswirtschaft einzelner Kommissare (beiderlei Geschlechts) ist da nicht mehr als ein skandalöses Sahnehäubchen - und sollte ansonsten ein Fall für die Justiz sein, so die Vorwürfe denn überhaupt justitiabel sind. Politisch fatal bleibt, daß sich solche Tatbestände vorzüglich zu nationaler und anti-europäischer Stimmungsmache eignen.

Wenigstens bis zum EU-Sondergipfel nächste Woche in Berlin bleibt alles beim alten. Dafür gibt es - trotz aller berechtigter Entrüstung - einen durchaus plausiblen Grund: Die EU-Kommission wird gebraucht! Zum einen wegen des hier versammelten europäischen Herrschaftswissens, und zum anderen, weil die Kommission bei den Verhandlungen zur »Agenda 2000« ein unerläßliches Korrektiv für die heftig differierenden und hinreichend egoistischen Nationalinteressen der 15 Mitgliedsländer darstellt.

Beim Schacher um Quoten und Beiträge verkörpert die EU-Kommission das Neue, den (oft kleinsten) gemeinsamen Nenner im europäischen Integrationsprozeß. Sie aus den Verhandlungen rauszuhalten, hieße die europäische Idee vor der Tür des Verhandlungssaals zu lassen. Um so mißlicher der Bärendienst, den die Kommission der europäischen Integration mit ihrem Versagen erwiesen hat.

Der Bundesregierung jedoch dürften die Brüsseler Kalamitäten nicht einmal ungelegen kommen. Gerhard Schröder hat sich mit seinen Netto-Zahler-Sprüchen unter erheblichen politischen Zugzwang gesetzt. Die Erwartungshaltung bei den Verhandlungen zur »Agenda 2000«, die in Berlin zum Abschluß gebracht werden sollen, um die Europäische Union auf die Herausforderungen der Globalisierung und die beschlossene Osterweiterung vorzubereiten, sind hoch. Und der Widerstand wächst, weil inzwischen völlig klar ist, daß die Schrödersche EU-Zauberformel: weniger zahlen, weniger einnehmen und dennoch erweitern nicht aufgeht. Jedenfalls nicht ohne heftige Abstriche am Tempo und an der Tiefe der europäischen Integration. Da kann ihm eine schwer angeschlagene Kommission nur recht sein. Das wird zwar die europäische Idee nicht unbedingt befördern. Aber dem Kanzler wäre geholfen. Er stände besser da, und das scheint ihm ja zu reichen.

Doch der Vorgang hat auch sein Gutes. Immerhin sind die Versäumnisse der EU-Kommission vom europäischen Parlament aufgedeckt worden. Danach wäre eigentlich der Europäische Rat - das höchste Gremium der EU - aufgefordert gewesen, seinen Kommissaren auf die Finger zu schauen. Doch die europäischen Staats- und Regierungschefs hielten sich tunlichst bedeckt. Danach waren es wieder die Parlamentarier, die der Kommission mit einem Mißtrauensvotum drohten und so jenen Mechanismus in Gang setzten, der schließlich zum kollektiven Rücktritt der Kommission führte.

Zwar reichte die politische Kraft des Parlaments noch nicht aus, das Verfahren vollständig an sich zu reißen. Die Bestellung der unabhängigen Sachverständigen - fünf hochrangige Juristen und Rechnungsprüfer mit langjähriger Erfahrung im Brüsseler Filz - blieb ein Kompromiß im Tauziehen zwischen Kommission und Parlament. Doch das Ergebnis der Untersuchung gab den Parlamentariern recht. Und vielleicht deutet sich damit ja so etwas wie ein power shift auf europäischer Ebene an - weg von einer kommissarischen Exekutive mit fragwürdiger demokratischer Legitimation und hin zu einem machtvolleren europäischen Parlament.

P.S. Eine Woche, zwei Rücktritte - ein Zusammenhang? Wenn Jacques Santer geht, wird in Brüssel ein Job frei ...

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