Ernst Gumbrecht über 1926. Florian Illies über 1913 (zweimal sogar). Birte Förster über 1919. Heinz Schilling über 1517. Um 1810 wird es recht dicht – Adam Zamoyski schrieb über 1812 und Thierry Lentz über 1815. Klaus-Jürgen Bremm schrieb über 1866. Joachim Käppner schrieb über 1941, Victor Sebestyen über 1946. Die Liste ließe sich fast willkürlich erweitern, denn HistorikerInnen haben im Moment einen Hang zum Jahrgangsbuch. Philipp Sarasins neues Buch über 1977 lässt sich neben Butz Peters Buch zum selben Jahr einreihen und sitzt dicht neben Frank Boschs Buch über 1979.
Der Aufstieg des Einjahresbuches ist eine Mode, und zugleich mehr als eine Mode. Denn, wie Georg Simmel bekanntermaßen behaupte
n behauptete, Änderungen in der Mode sind zum großen Teil bedeutungslos. Ob wir dieses Jahr eng oder breit geschnittene Jeans tragen, ist egal. Das Entscheidende ist, dass es sich ändert. Was entschieden nicht der Fall ist bei der Einjahresstudie. Die Gattung entspringt gewissermaßen einem Abgrund, einer Glaubenskrise in der Geschichtsschreibung. Es ist kein Zufall, dass Gumbrecht, als er seine ganz frühe Einjahresstudie veröffentlichte, ganz grundlegende historische Ziele und Methoden infrage stellte: „Und worum geht es nun nicht?“, schrieb er, „(...) Um irgendwelche Versuche, die Welten von 1926 zu interpretieren oder zu verstehen (...).“ Die Einjahresstudie ist nicht anders als andere geschichtliche Werke, weil sie einfach anders sein will, sie ist mindestens zum Teil anders, weil sie die Natur des geschichtlichen Wissens infrage stellen will.Philipp Sarasin jedenfalls möchte etwas von der Geschichte lernen – er wäre wohl nicht der Mitherausgeber eines Online-Feuilletons namens Geschichte der Gegenwart, wäre er nicht der Überzeugung, man könne durch Geschichte die Welt besser verstehen. Nur wenige der neueren Einjahresstudien übernehmen Gumbrechts Radikalität – die Mehrheit scheint eher, genau wie Sarasin, das Jahr als eine mehr oder weniger willkürlich ausgesuchte Zeitspanne zu nutzen. Genau diese Willkürlichkeit wird gepriesen, weil sie die totalisierenden Tendenzen von altmodischen, epochenbasierten Geschichtsbüchern wohl vermeiden helfen soll. Sarasin behauptet, „der Fokus eines Jahres kann nicht nur besser als andere, eher großräumige Gesamtdarstellungen der Siebzigerjahre oder der Nachkriegsjahrzehnte die Rede vom ‚Strukturbruch‘ anschaulich und verständlich machen, sondern er kann vor allem jene Veränderungen hin zur Gegenwart hervorheben, die nicht im Konzept des politischen Großereignisses aufgehen, aber mindestens ebenso tiefwirkende Folgen hatten“.Reduziert man also den Blick auf eine relativ willkürlich ausgesuchte Zeitspanne, so sieht man besser, welche Zufälligkeiten und Gleichzeitigkeiten die Geschichte zu steuern vermögen. Die Narrative, die sich aus Epochenstudien ergeben, schaffen eine Klarheit und Natürlichkeit, die man in zeitgenössischen Berichten zwangsläufig nicht findet. Wenn man den Blick genauer fokussiert, verbannt man einige dieser Erzählungen aus dem Blickfeld und kommt der Beliebigkeit näher, die jede Gegenwart ausmacht. Sarasin blendet in seinen theoretischen Überlegungen allerdings aus, dass der Strukturbruch, den er verstehen will, erst sichtbar werden kann, wenn er in einer „großräumigen Gesamtdarstellung“ präsentiert wird. Das ist mehr als nur eine theoretische Bemerkung. Sarasins Buch wäre nahezu unlesbar für Menschen, die nicht über ein ziemlich ausführliches Hintergrundwissen verfügen. Es wäre auf alle Fälle nicht zu schreiben gewesen ohne genau jene Gesamtdarstellungen, die Sarasin etwas flinkzüngig abtut.Das Jahrgangsbuch ist in diesem Sinne ein bisschen parasitär. Um die großen Erzählungen infrage zu stellen, braucht man große Erzählungen, die infrage gestellt werden können. Und Sarasin greift immer wieder zu den größten Geschichten, die die Geschichtsschreibung geschrieben hat – das Buch bietet „kleine Geschichten der Moderne, von denen ausgehend sich das Rätsel des ‚Strukturbruchs‘, der ‚Postmoderne‘ oder des ‚Endes der Moderne‘ hinreichend kompliziert“. Es ist eine bemerkenswerte Kombination, solche übergreifenden Epochen ins Zentrum zu stellen, nur um dann auf ihrer Brüchigkeit zu beharren. Ein bisschen hat man das Gefühl, Sarasin möchte auf zwei Hochzeiten tanzen. Immer, wenn man meint, im Jahr 1977 angekommen zu sein, kommt eine große Theorie zur Moderne oder zur Postmoderne.Die Wechselwirkung zu zeigen, gelingt ihm manchmal auf eine sehr überzeugende Art und Weise. Vor allem in der Diskussion der Identitätspolitik bietet das Buch eine neue und prägnante Lektüre des einflußreichen „Statements“ des linken Combahee River Collective. Zur selben Zeit begann bei den neuen Rechten eine Fixierung auf Identität. Auch in der Diskussion der neuen Medienlandschaft, die sich mit der Gründung von Apple und der Einführung von gleich mehreren „Personal Computers“ entwickelte, liefert Sarasin neue Sichtweisen. Oft sind die konkreten Überlegungen zu historischen Ereignissen in 1977 aber überflüssig. Wer Samuel Moyn und Quinn Slobodian gelesen hat, kann sich Sarasins aufgetaute Argumente über Menschenrechte und Neoliberalismus sparen.Das mit der Musik läuft schiefVor allem wünscht man sich, Sarasin hätte auf ähnlich gute Argumente über die Musik zurückgreifen können. Denn wenn er über die gleichzeitige Entstehung von Hip-Hop, Punk und Disco schreibt, läuft es schief. Solange die europäische Hochkultur den Rahmen seiner Überlegungen bildet, funktioniert Sarasins Struktur mehr oder weniger gut. Aber wenn er die Geburt des Hip-Hops in New York im Jahr 1977 ausmachen will, blendet er eine lange musikalische und kulturelle Entwicklung der afro-amerikanischen Musik weitgehend aus. Klar nickt er einmal obligatorisch in Richtung Jamaika, um eine Art Vorgeschichte zu etablieren. Wer aber das Aufkommen von „Breaking“ beschreiben will, sollte klarstellen, dass es aus einer langen afroamerikanischen Kulturtradition entstanden ist, die Tanzstile hervorbrachte, die sowohl von Europäern als auch von weißen Amerikanern lange ignoriert wurden. Dass „Breaking“ hier erwähnt wird, aber nicht zum Beispiel „Stepping“, „Popping“ oder „Hand Dancing“, bedeutet, den Tanz und die dazugehörende Musik völlig von ihrem schwarzen Kulturkontext loszureißen, damit man sie als Teil einer vorwiegend weißen Geschichte einordnen kann.Bei vielen Einjahresstudien ist es verständlich, dass die eigene Gattung nur wenig oder nur am Anfang mitgedacht wird. Aber hier hätte man auf ein bisschen mehr methodologische Klarheit gehofft, denn auch die Geschichtsschreibung durchlief in den späten 1970ern eine wesentliche Änderung. Die „großräumige Gesamtdarstellung“, die sich früher auf Herrscher und große Geister konzentrierte, wurde oft durch eine gezielt politische Geschichtsschreibung ersetzt. Seither sind jedoch die Universitäten größtenteils durch neoliberale Kürzungen verwüstet worden. Die intellektuellen Kreise, die einst einen politischen Diskurs zu führen vermochten, stehen heute unter einem nahezu unhaltbaren Druck. Dissertationen werden immer länger, die Teilgebiete, die sie behandeln, werden immer kleiner. Jüngere Wissenschaftler sind gut beraten, die Eitelkeit von alten Professoren nicht zu verletzen, denn es könnten Karrieren zu einem jähen Ende kommen. Es gibt wirklich sehr gute Jahrgangsbücher, aber das Genre selbst entspringt genau der neoliberalen Wende, die Sarasin hier beschreibt. Man braucht keine großen Forschungsgruppen, sondern arbeitet alleine. Computer ermöglichen das schnelle Zusammenstellen von Ereignissen des jeweiligen Jahres. Man streitet sich nicht mehr über das Wesen der Postmoderne, sondern untersucht sie anhand einer singularen Auseinandersetzung mit einem Thema, das sonst niemanden besonders leidenschaftlich interessiert. Sarasin liefert hier eine prägnante Diagnose der Postmoderne, aber manchmal möchte man während der Lektüre schreien: „Medice, cura te ipsum!“Placeholder infobox-1
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